DUISBURG/ESSEN/BERLIN - Mit Ankunft auf dem Duisburger Hauptbahnhof (Gleis 2) hat der "Zug der Erinnerung" über 100.000 Besucher erreicht. Dies ergibt eine Übersicht der Zugbegleiter, denen auf der neuen Etappe durch Nordrhein-Westfalen ein ständig steigendes Interesse begegnet: In Dortmund beteiligten sich fast 7.000 Menschen am Gedenken auf dem Hauptbahnhof, in Bochum waren es 5.800, in Gelsenkirchen an nur zwei Tagen über 2.500. Selbst die geringe Vorbereitungszeit (zwei Wochen) und eine deutliche Zurückhaltung offizieller Gremien konnten in Gelsenkirchen den Zuspruch nicht schmälern. "Die Gelsenkirchener haben sich nicht irritieren lassen und trotz aller Widerstände der Opfer gedacht", sagt Ute Schilde, die den Zug in NRW begleitet. "Diese Ausstellung, der Ort ihrer Präsentation und ihr Inhalt - das alles ist anders als im Museum. Wer die deutsche Geschichte konkret und aus der Perspektive der Opfer betrachtet, kann trauern, um handeln zu können."
In unzähligen Einträgen berichtet das im Zug ausliegende Gästebuch über die tiefe Erschütterung, über Scham und Anteilnahme der Besucher, die hier einen Ort für ihre Gefühle finden. "Ich wurde 1941 geboren - 1947 eingeschult. Von meinen Lehrern erfuhr ich so gut wie nichts...", bekennt ein Besucher aus Hessen. "Obwohl ich mich seit langer Zeit mit diesem Thema beschäftige, bin ich erschüttert". "Ich bitte für meine Großeltern, meinen Vater, meinen Onkel...um Verzeihung", heißt es an anderer Stelle ohne Unterschrift. Die junge Vanessa aus Baden-Württemberg schreibt: "Es hat mir sehr weh getan." "Noch lauter müsste man das Schreckliche bekannt machen und mutiger sein, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen", meint eine Besucherin in Saarbrücken. "Man wird wütend, wenn man sieht, wie viele Täter nicht verurteilt wurden...Lasst uns diesmal früher dagegen ankämpfen", ergänzt eine Frau aus Hessen. In Gelsenkirchen schreibt ein 15-jähriges Mädchen: "Ohne herzlos klingen zu wollen! Aber es ist passiert. Das lässt sich nicht ändern, doch sollte man nun daraus lernen, das ist die einzige Chance so etwas nicht noch einmal geschehen zu lassen. Wir sind die dafür zuständige Generation und dieser Zug trägt zu dem Wissen bei, was dazu nötig ist. Er hat mich zum Nachdenken bewegt! Ich werde alles daran tun, dass so etwas, wenigstens in meiner Umgebung, nicht passieren kann."
Dem emotionalen Zugang entspricht die große Reichweite, die in Presseberichten deutlich wird. Tag für Tag ist der "Zug der Erinnerung" Gegenstand von Veröffentlichungen, deren Inhalte teilweise vertiefen, was die Ausstellung nur skizzieren kann (Medienberichte). Pressekommentare äußern Unverständnis und Empörung über die Konzernleitung der Bahn AG und das Verkehrsministerium; Parlamentarier und Bundesregierung werden aufgefordert, den Zug nicht länger zu behindern. So schreibt das Bezirksjugendwerk der Arbeiterwohlfahrt (AWO-Niederhein) an die Bundeskanzlerin, es verstärke sich "der Eindruck, dass die Bahn ganz gezielt versucht, die Initiative gegen das Vergessen durch horrende finanzielle Forderungen in den Ruin zu treiben. Und das anscheinend auch noch mit der Unterstützung des Bundesverkehrsministeriums, dessen Vorgänger 'Reichsverkehrsministerium'...eng mit dem 'Referat IV B4 Adolf Eichmann' zusammen arbeitete." (Im Wortlaut)
In einem Schreiben der Initiatoren an die Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann (SPD) heißt es: "Der 'Zug der Erinnerung' wird seine Fahrt trotz aller Widerstände fortsetzen und gegen diese Widerstände sämtliche Mittel der Bürgergesellschaft aktivieren. Gemeinsam mit über Hunderttausend Besuchern, die bisher auf den Bahnhöfen der Deportierten gedachten, verfolgen wir die Erinnerung an die Opfer würdig, entschlossen und unbeirrt."
Noch bis zum Donnerstag steht der Zug auf dem Duisburger Hauptbahnhof und fährt dann Essen an.