Zug der Erinnerung
Ein Projekt deutscher Bürgerinitiativen
In Kooperation mit:
Ältere Frauen mit dem aufgenähten Davidsstern, Männer und halbe Kinder wie ich, wir wurden mit Kolbenstößen auf die bereitstehenden Lkw getrieben.>
Frage: Das spielte sich doch am hellichten Tage ab. Sah die Berliner Bevölkerung zu?
Horst Selbiger: Sie sah nicht nur zu, sondern klatschte. Ich erinnere mich an deutsche Frauen als die Wagen vor der ehemaligen Synagoge in der Berliner Levetzowstraße wieder hielten. Die "Arierinnen" kommentierten unseren Antransport mit Beifall. Berlin sollte "judenfrei" werden. Das fanden sie gut.
Frage: Was warf man Ihnen vor?
Horst Selbiger: Wir mussten unterschreiben, daß wir wg. kommunistischer und staatsfeindlicher Umtriebe verhaftet worden wären. Es war ganz klar, daß unsere Deportation bevorstand. Wir hatten keine Hoffnung zu überleben.
Frage: Aber es gab eine erstaunliche Wende...
Horst Selbiger: Davon erfuhren wir erst später. Vor den Sammellagern kam es zu Demonstrationen. Es waren vor allem die nicht-jüdischen Frauen, unter denen sich wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, daß ihre jüdischen Männer abtransportiert werden sollten...in die Lager.
Es waren diese Frauen, die trotz aller Erpressungen zu ihren jüdischen Ehepartnern standen, die Mut bewiesen und Widerstand leisteten! Sie wurden von Gestapo-Wagen mit aufmontierten Maschinengewehren vertrieben, abere sammelten sich in Hausfluren, versteckten sich, kamen wieder heraus und demonstrierten weiter: Gebt uns unsere Männer wieder! Laßt unsere Männer frei! Rund um die Berliner Rosenstraße wimmelte es von Menschen, und das nicht nur am 27. und 28. Februar. Bis zum März, immer wieder waren die Angehörigen der verhafteten Juden auf den Sammelplätzen.
Frage: Das führte zu Ihrer Freilassung?
Horst Selbiger: Ja, am 9. März wurde ich frei gelassen...In der Haftzeit hatte ich für jede Bombe gebetet, die bei den alliierten Angriffen auf Berlin niederging. Je größer die Schäden, desto aussichtsreicher die Flucht, dachte ich. Aber stattdessen war es der Mut der Frauen, denen wir in diesem Augenblick das Leben verdankten.
Das war der erste Aufstand von Christen für die verhafteten Juden. Die Demonstrationen widerlegen die Märchen der Nachkriegszeit: "Wir konnten nichts tun, wir wären erschossen worden" usw. usf.
Frage: Hat Sie das damals mit Mut erfüllt?
Horst Selbiger: Es macht mir heute noch Mut! Nur der Widerstand, entschlossener Widerstand hat den Verbrechen ein Ende bereitet! 1943, das war das Jahr von Stalingrad, das Jahr des Aufstands im Warschauer Ghetto und des Aufstands von Sobibór. Dieses Jahr brachte die Wende.
Die Lehre die ich ziehe, ist: Im Kampf gegen Rassismus und nationalistischen Größenwahn müssen wir nicht im Schlachthof enden wie die Lämmer. Wenn wir uns widersetzen, können wir erfolgreich sein.