BERLIN - Bei mehreren Wissenschaftsprojekten über die sogenannte Arisierung jüdischen Vermögens ist Prof. Dr. Wolfgang Dreßen (Düsseldorf) auf die Spuren der verschleppten Kinder gestoßen - und auf Schwierigkeiten mit den deutschen Archivbehören. Wir sprachen mit Prof. Dreßen in Berlin.
Frage: An welcher Stelle ist in den Akten über die sogenannten Arisierungen auch von den deportierten Kindern die Rede?
Prof. Dr. Wolfgang Dresen: Als die deutschen Juden aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, begann die Plünderung des jüdischen Eigentums - in den großen Städten ebenso wie auf dem Land. Für jede deportierte Familie wurde eine Akte angelegt. Grundsätzlich wurde alles versteigert, was nicht niet- und nagelfest war, von wertvollem Mobiliar bis zu einfachsten Gebrauchsgegenständen. Diese Versteigerungen fanden unter reghafter Beteiligung der deutschen Bevölkerung statt. Versteigert wurde auch Kinderspielzeug.
Frage: Die Nachbarn haben das Spielzeug der gerade verschleppten Kinder ersteigert?
Prof. Dr. Wolfgang Dresen: Ja. Manchmal in engem zeitlichen Abstand zu den Deportationen, fast immer im Wissen um die Herkunft dieser Überbleibsel der vernichteten Kinderleben. Der "Zug der Erinnerung" wäre ein geeigneter Ort, um auf die Plünderung der letzten Lebenszeugnisse dieser Kinder aufmerksam zu machen. Frage: Gibt es Beweise, gibt es Dokumente?
Prof. Dr. Wolfgang Dresen: Über die Versteigerungen, bis hin zu Kinderspielzeug, wurde Buch geführt. Die entsprechenden Dokumente archivierten die zuständigen Finanzdirektionen, überall in Deutschland. Die Unterlagen über die Plünderung des jüdischen Vermögens sollten möglichst lange unter Verschluss bleiben: Sperrfrist 80 Jahre.
Frage: Von welchen Akten haben Sie Kenntnis?
Prof. Dr. Wolfgang Dresen: Im Archiv der Oberfinanzdirektion konnte ich 1997/98 etwa 2000 Akten einsehen. Der Bestand umfasste etwa 20.000 Akten. Aus Kopien dieser Akten habe ich eine Wanderausstellung zusammengestellt , in der die Begehrlichkeit der Deutschen dokumentiert ist. Nicht kopiert werden konnte ein umfangreicher Karteikartenbestand. Für den Bereich der preußischen Rheinprovinz werden auf diesen Karten die Namen der Deportierten, ihr Geburtsdatum, der letzte Aufenthaltsort vor der Deportation und der Zeitpunkt der Kartenanlage vermerkt. Außerdem wird die Nummer der jeweiligen zugehörigen Akte angegeben.
Frage: Finden sich in diesen Karteien auch Spuren der verschleppten Kinder?
Dreßen: Ja. Für jeden Haushalt wurde eine Kartei angelegt, die Namen und Geburtsdaten aller Haushaltsangehörigen sind verzeichnet, also auch die Namen der Kinder. Anhand dieser Karteikarten können die Namen der deportierten Kinder umfassend dokumentiert werden.
Frage: Warum kann auf diese Namen nicht zugegriffen werden?
Dreßen: Der aktuelle Aufbewahrungsort der Karteien ist zur Zeit unbekannt. Die Oberfinanzdirektion Köln behauptet, sie hätte den gesamten Aktenbestand abgegeben. Die Aussagen über den aktuellen Ort widersprechen sich: einerseits das Staatsarchiv Düsseldorf, andererseits die Oberfinanzdirektion Berlin. In Düsseldorf ist über die Karteikarten angeblich nichts bekannt. Die Oberfinanzdirektion Berlin behauptet, der Bestand läge in einer „Außenstelle“ in Berlin-Weissensee. Hier wird darauf verwiesen, daß nichts ausgepackt sei und deshalb sei eine Auskunft auch nicht möglich.
Frage: Sie erwähnten, daß auf den Karten auch die jeweilige Aktennummer vermerkt ist. Es ist nur folgerichtig, daß die Karteikarten zusammen mit den Akten aufbewahrt werden.
Dreßen: Da stimme ich Ihnen zu. In den Akten finden sich auch Versteigerungslisten , auf denen das Hab und Gut der Kinder vermerkt ist. Neben diesen personenbezogenen Akten konnte ich in Köln auch Akten einsehen, die über Verkäufe aus jüdischen Institutionen Auskunft geben. Auch hier finden sich Spuren der Kinder.
Frage: Inwiefern?
Dreßen: Zum Beispiel erwarb das städtische Waisenhaus der Stadt Köln die Wäsche, das Spielzeug und das Mobiliar des jüdischen Waisenhauses in Köln, nachdem die Kinder deportiert wurden. Oder das Schulamt der Stadt Köln benutzte die Schulbänke der jüdischen Schule. Die Waisenkinder, die Schülerinnen und Schüler aus Köln mußten in die Waggons der „Reichsbahn“ einsteigen. Sie wurden nach ihrer Ankunft im „Osten“ in kein Lager eingeliefert. Sie wurden sofort ermordet.