Zug der Erinnerung
Ein Projekt deutscher Bürgerinitiativen
In Kooperation mit:
Region Bonn
Rheinland-Pfalz
TEL AVIV - Durch die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager führte der Weg des damals 12-jährigen Helmut Steinitz, dessen Odyssee mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen begann. Im Oktober 1939 wurde der Heimatort der Familie Steinitz, das damals 80 Kilometer von der deutschen Grenze entfernte Posen (Poznan), von den vorrückenden deutschen Truppen besetzt. Weil sie Juden waren, kamen die Steinitz’ und Hunderte anderer Familien in ein Internierungslager. Nach mehreren Wochen wurden sie per Bahn „nach Osten“ abgeschoben. Die Irrfahrt endete im Krakauer Ghetto. Von dort verschleppten die Besatzer im Juni 1942 Helmuts Familie, darunter den jüngeren Bruder Rudolf, in das Lager Belzec. In Belzec, einer deutschen Mordstätte bei Lublin, wurden etwa 430.000 Menschen umgebracht. Helmut Steinitz entging dem Transport und überlebte. 1945 wurde er in der Nähe von Schwerin befreit. Über Hamburg und Anwerpen gelangte Helmut Zwi Steinitz anschließend nach Palästina. Wir baten den heute 81-Jährigen, die mehrfachen Deportationen mit der "Deutschen Reichsbahn" zu schildern.
"Aus dem Krakauer Ghetto wurde ich mit den übrig gebliebenen Juden im Dezember 1942 nach Plaschow (Plaszow) getrieben, einem KZ. Unter schwer vorstellbaren Bedingungen blieb ich dort bis Februar 1944 in Haft. Als man Schlosser und Mechaniker suchte, meldete ich mich zusammen mit anderen Häftlingen. Wir hofften, den grauenhaften Verhältnissen im Lager zu entgehen, wenigstens eine Arbeitsstelle außerhalb des KZ zugewiesen zu bekommen.
Man fuhr uns zu einem kleinen Bahnhof, wo Güterwagen warteten. Das Ziel des bevorstehenden Transportes wurde uns nicht genannt. Vor der Abfahrt verriegelten die Begleitmannschaften die Türen. Wasser und Lebensmittel gab es nicht. Angst und Unruhe herrschten im Güterwagen, Ungewissheit nagte an meiner Seele und ich machte mir Vorwürfe, dass ich mich voreilig gemeldet hätte. Die Fahrt im Dunkel, in einem verschlossenen Viehwaggon, war unheimlich und beängstigend. Ich war gerade 16 Jahre alt, alleine mit mir und ohne Familie. Das monotone Rattern der Räder verstärkte noch meine Unruhe. Einige von uns versuchten vergebens durch eine Ritze irgend einen Hinweis auf die Fahrtrichtung zu entdecken. Der Gefangenentransport schien endlos zu dauern. Da hörte ich plötzlich einen Aufschrei - voller Enttäuschung und Panik: ‚Auschwitz, Auschwitz.....’ Niemand hatte geahnt, dass wir nach Auschwitz abgeschoben werden...
Es war bereits dunkel, als die Wagen in unmittelbarer Nähe des Lagers Auschwitz 1 stehen blieben. Man hörte Stimmen, die Türen wurden geöffnet und Befehle der SS-Wachmannschaften trieben uns hinaus. Auch Häftlinge in gestreifter Kleidung standen bereit. Ich zitterte vor panischer Angst. Freiwillig hatte ich mich gemeldet, in der Hoffnung den fürchterlichen Erlebnissen in Plaschow zu entkommen und war nun in eine Falle geraten....Ich sah mich um. Lokführer und Zugpersonal waren Zeugen unserer Ankunft. Was hier geschah, blieb ihnen nicht verborgen...Heute weiß ich, dass Tausende Güterzüge mit Millionen in den Tod rollten, was einer genauen Logistik bedurfte. Tausende Eisenbahnbeamte mussten dafür eingesetzt werden, ein Riesenapparat war mit den Transporten in die Vernichtungslager beschäftigt.“
TEL AVIV – Helmut Zwi Steinitz, einziger Überlebender einer jüdischen Familie aus Posen (Poznan), war 12 Jahre alt, als seine unbeschwerte Jugend endete. Die Familie wurde 1939 enteignet, interniert, dann „nach Osten“ abgeschoben und geriet über Zwischenstationen in das Krakauer Ghetto. Von dort verschleppten die Besatzer Helmuts Eltern und seinen jüngeren Bruder Rudolf in die deutsche Mordstätte Belzec. Helmut Steinitz entging dem Todestransport, aber kam nach Auschwitz, wo er in einem Nebenlager für die deutsche Kriegsindustrie als Schlosser arbeiten musste. Als die östliche Front im Januar 1945 näher rückte, trieb die SS Abertausende Häftlinge in einem Todesmarsch von Auschwitz nach Westen. Wer überlebte, wurde von der „Deutschen Reichsbahn“ einer neuen Methode der Vernichtung ausgesetzt. Helmut Zwi Steinitz erinnert sich:
„Die SS behandelte uns schlechter als Schlachtvieh. Mit der Räumung des KZ kam zwar der Vernichtungsapparat in Auschwitz zum Stillstand, jetzt hatten die Nazis aber die Absicht, ihren schändlichen Plan auf andere Weise durchzusetzen. Der Todesmarsch war eine der barbarischen Methoden; mit Beihilfe der „Deutschen Reichsbahn“ gab es noch eine andere: Die entkräfteten Häftlinge zu Tausenden in Viehwaggons zu sperren und in Erwartung ihres baldigen Todes wochenlang durch Europa zu fahren – in ungedeckten, offenen Güterwagen bei Minustemperaturen, bei Schnee und Eis im Januar 1945.
Erschöpft und hungrig waren wir in der Nähe von Gleiwitz (Gliwice) auf die Schienen getrieben worden. Um unser Leid noch zu steigern, blieben die Türen der Wagen geschlossen. So mussten die geschwächten Häftlinge nach oben klettern und aus Dachhöhe auf den Wagenboden springen. In den schäbigen Holzpantien, in denen ich den Todesmarsch von Auschwitz hinter mich gebracht hatte, gelang es mir nur mit großer Mühe, die Waggonwand zu überwinden.
Doch waren die „Reichsbahn“-Waggons bereits überfüllt. Die Häftlinge standen eng aneinandergepresst, Körper an Körper. Unsere dürftige Häftlingskleidung konnte uns nicht schützen. Stunden verbrachte der Zug auf dem abgelegenen Gleis bei Gleiwitz, hungernd und frierend erwarteten wir die Abfahrt, ohne zu wissen, wohin wir verschleppt werden sollten. Doch wie lange kann ein Mensch fast bewegungslos auf einem kleinen Fleck stehen und seine Bedürfnisse unterdrücken? Es war demütigend. So sahen wir bald fast nicht mehr menschenähnlich aus.
Es dämmerte bereits, als sich der Zug in Bewegung setzte. Der Himmel war sternenklar, nur das monotone Rattern der Räder und das Wimmern der Kameraden durchdrang die Nachtstille. Die Todesfälle häuften sich. Anfangs wurden die Leichen aus den „Reichsbahn“-Waggons geworfen; als jedoch die Anzahl der Opfer stieg, lagerte man sie in einem leeren Güterwagen und warf sie irgendwo unterwegs in ein Massengrab – unbekannte und vielleicht für ewig vergessene Menschen, die an den Schienenstrecken der damaligen „Reichsbahn“ liegen.
Ist den Zugführern und ihren Mannschaften sowie den unzähligen Stationsleitern entgangen, welche Fracht hier transportiert wurde? Waren sie blind und schwerhörig, als sie die Toten sahen und unser Flehen hörten?
Wir waren viele Tage unterwegs, bis ein weit verzweigtes Gleisnetz die Nähe einer Großstadt ankündigte. Der Geisterzug hielt unter der Brücke eines Güterbahnhofs. Schnell sprach es sich herum, dass wir in Prag gestrandet waren. Wir erkannten Fußgänger, die von oben in die offenen Güterwagen sahen – und spontan halfen. Päckchen mit Essen wurden hinunter geworfen. Ich konnte meine Blicke von der Brücke nicht abwenden und bewunderte den Mut und die Barmherzigkeit der Prager. Zum ersten Mal seit Jahren füllten sich meine Augen mit Tränen...Ich wusste nicht, was noch bevorstand.
Der Zug verließ Prag und fuhr nach endlosen Stunden durch bewaldetes Bergland. Gleise verzweigten sich, neue Anzeichen einer Stadt, dann die ersten Schilder: Weimar. Ich dachte an Goethe. Eisiger Wind fegte uns entgegen. Wir waren auf den letzten Schienenkilometern zum Todeslager Buchenwald.“
TEL AVIV - Nach Stationen im Krakauer Ghetto und im KZ Auschwitz wurde Helmut (Zwi) Steinitz in den letzten Kriegsmonaten des Jahres 1945 mit der "Deutschen Reichsbahn" in das Todeslager Buchenwald verschleppt (Geisterzug nach Buchenwald). Hinter Helmut, dem einzigen Überlebender einer jüdischen Familie aus Posen (Poznan), lagen 5 Jahre ständiger Entbehrung und demütigender Gefangenschaft (Als Junge durch die Hölle der Deportationen). Im Januar 1945 ersehnte der 17-Jährige die Befreiung, die im Osten näher zu kommen schien. Aber ihm standen neue Qualen bevor. Helmut Zwi Steinitz, der heute in Israel lebt, erinnert sich:
"Der Zug fuhr an Weimar vorbei, schlängelte sich dann durch einen dichten Wald bergauf und in das mir damals unbekannte KZ Buchenwald. Es war bereits Nacht. Eisiger Wind fegte uns entgegen. Todmüde und nach einem warmen Getränk lechzend hörten wir den Befehl, die offenen Güterwagen der 'Reichsbahn' zu verlassen. Ohne Decken, nur in den Lumpen unseres KZ-Drillich gekleidet, wurden wir in einen Raum mit zerbrochenen Fensterscheiben geführt. Hier mußten wir uns splitternackt ausziehen und in eine Tonne mit Desinfektionsmitteln steigen. Die Kälte wurde immer schneidender. Statt irgendwelcher Kleidungsstücke, die vor dem Frost hätten schützen können, gab man uns anschliessend alte, abgenutzte Fetzen; statt Strümpfen oder Socken hatten wir uns Leinenlappen um die Füße zu wickeln. In diesem Aufzug mussten wir auf einer Art Appellplatz antreten. Vergeblich warteten wir auf den Abmarsch in eine Baracke. Jede Minute in dieser eisigen Kälte glich einer Ewigkeit und brachte unsere entkräfteten Körper dem Tode näher. Die Behandlung der SS hatte ein einziges Ziel: Möglichst viele Leben zu vernichten...Ich war bereits ein Eisklumpen, als wir endlich, zu Hunderten, abtreten durften. Mit den anderen stürzte ich mich in die Baracken und schrie meine Verzweiflung in die Nacht...
Drinnen empfing mich ein beißender Geruch. Ich schaute mich um: Auf dreistöckigen Pritschen lagen dicht aneinander gepfercht vor Hunger verdorrte lebendige Skelette...Ewiger Hunger verfolgte auch mich in Buchenwald. Im KZ Buchenwald waren Gaskammern nicht nötig, der Tod lebte mit den Barackeninsassen zusammen und holte sich täglich neue Opfer. Die Gefangenen wurden hier derart geschwächt, daß sie zu passiven Lebewesen verkamen, bar jedes Funkens Hoffnung. Daß in Buchenwald Tausende zu Tode kamen, konnte der benachbarten Weimarer Bevölkerung nicht entgangen sein. Diesem Massensterben entging ich nur mit enormem Glück. Weil ich bereits in einem Außenlager des KZ Auschwitz für die Firma Siemens Zwangsarbeit leisten musste, teilte man mich einem neuen Siemens-Kommando zu. Am 22. Februar 1945 verliess meine kleine Gefangenengruppe Buchenwald. Erneut in Güterwagen der 'Reichsbahn' ging es in das Stammwerk des Konzerns - nach Berlin. Die Stadt stand in Flammen. Über Jahre hatten die Deutschen fast den gesamten Kontinent beherrscht, Verwüstung hinterlassen und Millionen Menschen umgebracht. Jetzt bezahlten sie endlich für ihre jahrelangen Verbrechen."
(Wird fortgesetzt)
Wird fortgesetzt: "Räder müssen rollen..."
TEL AVIV - Ende Januar 1945 ist der SS-Gefangene Helmut (Zwi) Steinitz 17 Jahre alt, als er aus dem Todeslager Buchenwald zur Zwangsarbeit nach Berlin befohlen wird. Hinter Helmut liegen Leidensstationen im Krakauer Ghetto, im KZ-Lager Plaschow und in Auschwitz (Als Junge durch die Hölle der Deportationen). Wie Zehntausende andere KZ-Häftlinge wurde der Sohn einer jüdischen Familie aus Posen von Lager zu Lager deportiert, um in den Außenstellen der deutschen Rüstungsindustrie Nachschub für den Krieg zu produzieren. Die letzten Kriegsmonate erlebt Helmut in Berlin, wo er in den Siemens-Werken arbeitet.
"Wir kamen in ein kleines Barackenlager, das im Stadtteil Haselhorst lag und von der SS bewacht wurde. Die Versorgung erinnerte hier an Buchenwald: Eine Suppe aus Kohlrüben, dazu eine Schnitte trockenes Brot. Der Hunger wurde unerträglich. Wir KZler waren bei Siemens für die Nachtschicht eingeteilt und mussten -in der Sträflingskleidung, nur mit Holzpantinen an den Füssen- zwei Mal täglich den langen Weg vom Barackenlager zum Siemens-Komplex laufen. Häuser, die Abends noch halbwegs intakt waren, konnten nach Ende der Nachtschicht bereits in Staub und Asche liegen. Zwischen qualmenden Ruinen standen noch unversehrte Industriehallen, am nächsten Tag waren auch sie nur noch ein Trümmerfeld. Unter diesen Umständen war die Produktion nicht aufrecht zu erhalten. Hinzu kam, daß jetzt auch unser Barackenlager Bombentreffer abbekam. Die Räumung war unvermeidlich. Aber wohin?
Man trieb uns erst zu Fuss durch die Stadt und dann auf die Berliner Bahngleise, wo wir mit dem Zug über den Bahnhof Oranienburg in das KZ Sachensenhausen transportiert wurden. In Sachsenhausen herrschten Zustände wie in den 'traditionellen' KZ. Vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag mussten wir an Verteidigungsstellungen im Großraum Berlin schuften: Bei jedem Wetter Schützengräben ausheben, um die vorrückenden Truppen der Roten Armee aufzuhalten. Der Boden war hart gefroren, verlangte gesunde Arbeitskräfte und nicht von Hunger geschwächte Menschen. Doch die SS-Aufseher gönnten uns keine Ruhepause. 10 Stunden ununterbrochen zu graben, konnte ich einfach nicht durchhalten. Ich beobachtete die deutschen Posten und stellte fest, daß ich ihrer Kontrolle entging, sobald sie andere Häftlinge prügelten. Dabei durfte man die fanatischen Schläger keinen Augenblick aus den Augen lassen. Dieser Typ deutscher Nazis glaubte wohl immer noch, den Fall der Hauptstadt zu verhindern. Waren sie denn völlig wirklichkeitsblind, selbst wenige Wochen vor dem Zusammenbruch ihres 'Reiches' noch vom 'Endsieg' überzeugt?
Die Trümmer und das Leid der deutschen Bevölkerung konnten weder die Ströme jüdischer Tränen und jüdischen Blutes vergessen lassen noch ihre Schuld an den schrecklichen Verbrechen sühnen. Hatte ich einen Grund, den Deutschen zu verzeihen, ihre Deportationen mit der "Reichsbahn" durch halb Europa zu vergessen? Bei den Schanzarbeiten am Rande Berlins wurde ich Zeuge deutscher Selbstzerstörung. Schadenfreude habe ich nicht gefühlt. Deutschland blutete. Der Anblick der brennenden Hauptstadt bot keinen Trost, denn das Geschehene war nicht rückgängig zu machen. Doch erwachte dabei ein Hoffnungsschimmer: diese Hölle überstehen zu können.
Was mich damals am Leben hielt, ausgehungert und mit meinen Kräften am Ende, kann ich heute nicht mit Sicherheit sagen. Im Alter 12 Jahren war ich zum ersten Mal verhaftet worden und seitdem durch die Hölle der Massenvernichtung gegangen. Die ganze Zeit begleitete mich das Vorbild meiner Eltern, meiner Vaters und meiner Mutter, das mir in meiner Not vor Augen stand, und mich nicht vergessen liess, Mensch zu bleiben.
Als die Befreiung kam, nach einem Todesmarsch in Richtung Schwerin, jubelte ich nicht. Wir Überlebenden waren mutterseelenallein, obdachlos in Feindesland und vor einer ungewissen Zukunft. Fast sechs verlorene Jahre lagen hinter mir, und diese verlorene Jugendjahre waren nicht zu ersetzen, niemals."