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Zug der Erinnerung
Ein Projekt deutscher Bürgerinitiativen

In Kooperation mit:


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15 Tausend Besucher auf sechs Bahnhöfen

Seit Anfang Oktober haben über 15.000 Besucher der deportierten Kinder und Jugendlichen gedacht (Medienberichte). Dies bestätigen die pädagogischen Zugbegleiter, die Schulklassen und angemeldete Gruppen seit fast vier Wochen in die mobile Ausstellung einführen. Nach Stationsaufenthalten in Rheinland-Pfalz und im Saarland steuert der Zug jetzt zahlreiche Bahnhöfe im Nordwesten an (Fahrplan). Während der dreitägigen Standzeiten kamen in Delmenhorst 2.700 Besucher, in Oldenburg 2.350 und in Wilhelmshaven 3.300 an die Gleise, die zur NS-Zeit in die Vernichtung führten. "Etwa die Hälfte sind Schüler und Jugendliche", berichtet Ute Schilde, die das pädagogische Team anleitet. Durch den großen Zuspruch finden Einzelschicksale der Deportierten eine weite Öffentlichkeit, Ansätze einer alternativen Heimatgeschichte werden greifbar.

Aber nicht nur den Opfern, auch den Tätern wird Aufmerksamkeit zuteil. In bewegenden Zuschriften bitten Besucher um Unterstützung, weil sie die Verbrechensbeteiligung ihrer Eltern und Großeltern aufklären wollen.

Rücksichtslose Entschlossenheit

In einer geheimen Rede, die der deutsche Reichskanzler am 22. August 1939 vor Mitgliedern des Generalstabs hielt, kündigte er den bevorstehenden Überfall auf Polen an. "Durchführung: Hart und rücksichtslos." Dieser Zielsetzung folgte die deutsche Wehrmacht und verübte in Polen unzählige Massaker. Fotos des polnischen Dokumentaristen Feliks Lukowski belegen das Ausmaß der deutschen Gräuel im Bezirk Zamość.

Jugendlicher Partisan (Foto: Feliks Lukowski)

In einer Mitschrift der Hitler-Rede, der auf dem Obersalzberg etwa 50 deutsche Militärs widerspruchslos folgten, heißt es u.a.: "Ziel: Vernichtung Polens - Beseitigung seiner lebendigen Kraft. Es handelt sich nicht um Erreichen einer bestimmten Linie oder einer neuen Grenze, sondern um Vernichtung des Feindes, die auf immer neuen Wegen angestrebt werden muß... Auslösung: Mittel gleichgültig. Der Sieger wird nie interpelliert, ob seine Gründe berechtigt waren. Es handelt sich nicht darum, das Recht auf unserer Seite zu haben, sondern ausschließlich um den Sieg... Durchführung: Hart und rücksichtslos. Gegen alle Erwägungen des Mitleids hart machen!"

Mit besonderer Rücksichtslosigkeit gingen die Besatzer im Bezirk Zamość vor. Vor der Grenze zur damaligen UdSSR sollte Polen entvölkert und mit einem "germanischen Blutswall" versehen werden. Mehr als 100.000 Polen wurden inhaftiert. Über die Ereignisse schreibt der Historiker Werner Röhr:

"In der Nacht vom 27. auf den 28. November 1942 begann das Polizeikommando z.b.V. (zur besonderen Verwendung) des SS- und Polizeiführers Lublin mit der 'Evakuierung' des Dorfes Skierbieszów und ihm benachbarter Siedlungen im Kreis Zamość. Die Polizei umstellte die Dörfer und trieb im Morgengrauen alle Bewohner mit Gewalt aus ihren Häusern: Männer, Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Ihnen blieben nur wenige Minuten Zeit zur Vorbereitung, sie durften nur Handgepäck von höchstens 30 Kilogramm und 20 Zloty pro Person mitnehmen... Die Bewohner wurden auf dem Dorfplatz zusammengetrieben, dort ein erstes Mal selektiert... Unmittelbar danach wurden 'volksdeutsche' Ansiedler in die Höfe eingewiesen. Federführend bei den Aussiedlungen war die Sicherheitspolizei... den polizeilichen Masseneinsatz erledigte die Gendarmerie in Gestalt des 'Polizeibataillons z.b.V'., außerdem waren an der 'Aktion Zamosc' die SS-, die Luftwaffen- und die Heeresgarnisonen der Kreise Zamość und Bilgoraj beteiligt."

Die Verhafteten wurden einer Rasseprüfung ausgesetzt. Wer der Kategorie IV angehörte, kam in die Vernichtungslager. Für die Kategorien I und II war "Wiedereindeutschung" oder "Feinmusterung" vorgesehen. "Alle Personen unter 14 und über 60 Jahre der Gruppe III wurden ohne Rücksicht auf die Familien in sogenannte Rentendörfer ... verfrachtet, aus denen die mehrheitlich jüdischen Bewohner in die Vernichtungsstätten abtransportiert worden waren. Tausende Kinder und alte Menschen starben an den Folgen der Gewalttätigkeit, sie erfroren, verhungerten oder kamen auf andere Weise ums Leben."

Die deutsche Brutalität trieb größer werdende Teile der polnischen Landbevölkerung in den Widerstand. Auch davon berichten die Bilder von Feliks Lukowski (Foto: Ein jugendlicher Partisan).

Die "Aktion Zamosc" war Teil des "Generalplans Ost", der von deutschen "Raumwissenschaftlern" vorbereitet und betreut wurde. Im Oktober 1939 hatte Heinrich Himmler ("Reichsführer SS") den renommierten Professor Konrad Meyer zum Chef-Umsiedlungsplaner berufen. Mit Kriegsbeginn übernahm Meyer "die Zuständigkeit für die Germanisierung Osteuropas."

Über die bundesdeutsche Nachkriegskarriere Meyers, der für die deutschen Großverbrechen in Polen unmittelbare Verantwortung trägt, heißt es in einer biographischen Notiz:

"1956 wurde Meyer als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Landesplanung und Raumforschung an der Technischen Universität Hannover berufen. Hier wirkte er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1968... Er war unter anderem Mitglied der Akademie für Raumforschung und Landesplanung und wurde in den 1950er Jahren weiterhin von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert."



Mit dem Erbe der Täter brechen

Vor 70 Jahren marschierten der deutsche Wehrmachtssoldat Kurt Goldmann und seine Truppe in den polnischen Bezirk Zamość ein. Goldmann fotografierte gerne und hielt den Besatzungsalltag mit seiner Kamera fest. Zugleich führte er Tagebuch. Auch Feliks Lukowski fotografierte in Zamość - aber auf Seiten des polnischen Widerstands. Die Foto- und Tagebuchdokumente beider Männer sind seit Ende Oktober in einer Ausstellung zu sehen, die von der Bürgerinitiative "Zug der Erinnerung" unterstützt wird ("Kriegsspuren - Zwei Fotografen, zwei Perspektiven"). Den Deportierten von Zamość (darunter tausenden Kindern) soll späte Ehre erwiesen werden. Bei der Ausstellungseröffnung in Zamość rief der Vertreter des "Zug der Erinnerung" dazu auf, mit dem Erbe der Täter zu brechen und "die Geschichte aus der Perspektive der Opfer zu sehen".

Exhumierung nach dem Massaker von Siemnice,1943.
(Foto: Feliks Lukowski)

Die Ausstellung kam zustande, nachdem die Stiftung Polnisch-deutsche Aussöhnung (Warschau) und der "Zug der Erinnerung" die in Polen und Deutschland verfügbaren Fotodokumente zusammenführen konnten. Leihgeber sind die Familien der beiden verstorbenen Fotografen. Vor Ort wird die Ausstellung von einer polnischen Opferorganisation betreut, den "Kindern von Zamość". Es handelt sich um den Zusammenschluss Überlebender, die in frühem Alter aus Zamość vertrieben oder verschleppt worden sind. Während die Mehrzahl der Kinder mit ihren Familien durch Polen irrten, aber zumindest im eigenen Land bleiben konnten, wurden ausgesuchte Minderjährige zum Zwecke der "Germanisierung" nach Deutschland entführt. Etwa 4.500 polnischen Kindern und Jugendlichen raubten die NS-Besatzer ihre Identität und ließen sie zwangsadoptieren.

Wir bringen Auszüge aus der Rede, die Christoph Seeger vom "Zug der Erinnerung" bei Eröffnung der Ausstellung in Zamość hielt.

"... Die Fotos dieser Ausstellung lassen erahnen, was sich in das Gedächtnis der Einwohner von Zamość eingebrannt hat und was diejenigen, die überlebt haben, nie vergessen konnten. Es sind Bilder von Eroberern, die ein fremdes Land besetzen und seine Bevölkerung erniedrigen, aushungern und letztendlich vernichten werden. Ob den einzelnen deutschen Soldaten dieses Ziel bewusst war oder nicht: Sie erledigten ihre Aufgaben dienstbeflissen.

Am Ende deportieren sie mit den hunderttausend Bewohnern der Region Zamość auch Kinder und Jugendliche, reißen sie ihren Eltern aus den Händen, schicken sie in die Vernichtung oder in die Zwangsadoption, irgendwo nach Deutschland. Das Schicksal dieser Kinder, die 'germanisiert' werden sollten, muss uns besonders berühren. Viele dieser damals jungen Menschen suchen noch heute verzweifelt nach ihrer Identität, nach ihren Wurzeln.

Ich gehöre zu den Nachkommen der Väter, Großväter und Urgroßväter, die an der Okkupation und and den Verbrechen beteiligt waren. Zu der Generation, die auf den Dachböden und in den Kellern Erinnerungen und Devotionalien finden, die von den Vorfahren dort versteckt wurden, um zu vergessen. Doch geht das so einfach?

Müsste ich mir vorstellen, dass Teile meiner Familie an den Gräueltaten in und um Zamość beteiligt gewesen sind, so wäre mir das unerträglich. Inzwischen habe ich selber zwei Töchter, die Fragen stellen. Fragen sie mich, ob sie oder wir, die Nachgeborenen, Schuld tragen, so kann ich ihnen nur sagen, dass wir nicht Schuld, aber Verantwortung übernehmen müssen.

Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, mit dieser Verantwortung umzugehen:

Man kann sie verdrängen, wie das so viele versuchen zu tun, diejenigen, die einem immer wieder sagen, man solle die Geschichte ruhen lassen;

Oder die Verantwortung kann geleugnet werden, wie es diejenigen tun, die 70 Jahre nach Kriegsende glauben, sie müssten Ansprüche auf polnische Territorien, auf polnische Kultur und Besitz geltend machen. Unter der zugrunde liegenden Gesinnung hat Polen mehrfach leiden müssen;

Oder man kann mit bescheidenen Mitteln die Verantwortung annehmen und versuchen, mit der Geschichte jener Deutschen, die Europa überfallen haben, zu brechen.

Beerdigung der Opfer einer "Befriedungsaktion"
in Siemnice, 1943.

Noch heute sind die Spuren der Vergangenheit, die Spuren der Gräueltaten des NS-Regimes und aller daran Beteiligten überall spürbar. Für die Lebenden ist es noch nicht vorbei. Die überlebenden Opfer und die Kinder und Kindeskinder der Opfer tragen diese Last noch heute - eine Last, die so schwer ist, das sie jahrzehntelang darüber nicht reden konnten, eine Last, die sie um ihren Schlaf gebracht hat.

Auch die historischen Erben der damaligen Täter bleiben davon nicht verschont. Das Geschehene wirkt weiter. In meiner therapeutischen Arbeit und in den Praxen der Psychotherapeuten sind die Nachwirkungen des Krieges immer wieder zu spüren. Die Seele, die "kollektive Seele", kann nicht vergessen, sie leidet unter den beschwiegenen Verbrechen. Die meisten der deutschen Täter haben es verstanden, sich der Verantwortung zu entziehen. Sie haben uns, den Söhnen und Enkeln, ihre Beschönigungen und Lügen hinterlassen.

Das einzige Mittel, mit dem Erbe der Täter zu brechen, ist die Erinnerung: die Erinnerung an das, was damals wirklich geschah - und die Bereitschaft, die Geschichte aus der Perspektive der Opfer zu sehen. Dies ist ein parteiischer Blick, ein mitfühlender Blick - ganz so, wie ihn diese Ausstellung nahe legt..."

Die Ausstellung "Kriegsspuren" wird noch bis Januar 2010 in Zamość zu sehen sein. Eine Rundreise durch Polen und Deutschland wird erwogen.



Nicht Schuld, aber Verantwortung

Auf Einladung der Katholischen Kirche im Bezirk Münster fährt der Zug jetzt fast zwei Wochen durch vier Städte. Wir fragten die Projektleiterin, Dipl. theol. Elisabeth Dartmann.

Zug der Erinnerung: In Delmenhorst sind mindestens 4 jüdische Kinder und Jugendliche deportiert worden. In Oldenburg waren es 26, in Wilhelmshaven 6, und in Vechta ist es mindestens ein Kind. Was hat die Katholische Kirche damit zu tun?

Walter P. ist eines der
Kinder, die den NS-Krankenmorden
zum Opfer fielen (Foto etwa 1942).

Elisabeth Dartmann: Es sind zwei widersprüchliche Dinge, die mich bewegen. Das eine ist eine Mahnung. Wie kann es sein, dass Kinder aus unserer Mitte geholt werden, um sie zu töten, und die Kirche findet zu keinem einheitlichen und kraftvollen Widerspruch? Was ist das, das Institutionen gegen ihre Überzeugung derart lähmt?

Das andere ist das Wissen darum, dass wir nicht Schuld erben - und im übrigen auch nicht die weiße Weste derer, die Widerstand geleistet haben -, sondern Verantwortung. Ich habe den Glauben nie daran verloren, dass wir lähmenden Mechanismen nicht einfach ausgeliefert sind. Kirchenmitglieder, die damals widerstanden haben, und Kirchenmitglieder, die heute Zivilcourage zeigen, machen mir darin Mut.

Zug der Erinnerung: Gibt es weitere Kinder und Jugendliche unter den NS-Opfern im Oldenburger Münsterland?

Elisabeth Dartmann: Kinder und Jugendliche sind auch Opfer der sogenannten Euthanasie geworden. Oft kann kein direktes Tötungsdelikt nachgewiesen werden. Auf den Totenscheinen steht eine Krankheit, beispielsweise Typhus. Die Kinder sind aber dem Sterben überlassen worden, weil sie nach Auffassung der Nazis nicht lebens- und liebenswert waren. Das zeigt doch, dass Vernichtung den innersten Kern der nationalsozialistischen Ideologie ausmacht.

Zug der Erinnerung: Wie kam es zu der Einladung an den "Zug der Erinnerung"?

Elisabeth Dartmann: In den bayerischen Radionachrichten gab es eine ganz kurze Meldung über den Zug. Wir hier im Norden waren spontan beeindruckt von dieser sehr einfühlsamen Idee, der deportierten Kinder und Jugendlichen zu gedenken, ihnen ihren Namen zurückzugeben, uns ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen. Weihbischof Heinrich Timmerevers, der Schirmherr des Projekts "Würdenträger", war sofort entschlossen, den Zug auch in unsere Region zu holen.

Zug der Erinnerung: Worum geht es Ihnen bei dem Projekt "Würdenträger"?

Erfreute Gesichter Oldenburger Passanten: Verhaftete
Juden werden durch die Straßen geführt. (9. November 1938)

Elisabeth Dartmann: Das Projekt richtet sich gegen Rechtsradikalismus in seinem alltäglichsten Gewand: gegen Vorurteile, Ausgrenzung, Rassismus und gruppenbezogene Menschenverachtung. Die katholische Kirche setzt dem etwas entgegen, nämlich das Bekenntnis, dass alle Menschen von Gott geliebt sind und deshalb gleich an Würde. Der "Zug der Erinnerung" steht genau in der Tradition dieses Bekenntnisses. Er verbindet zudem die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus mit aktuellem Engagement. Wenn wir in die Gesichter der Kinder von damals blicken, erfahren wir, dass es Sinn macht, sich einzusetzen für die Kinder heute. Kein Kind in unserer Gesellschaft sollte Angst haben müssen oder erleben, wegen seiner Hautfarbe oder Religion ausgegrenzt zu werden! Dafür steht das Projekt Würdenträger.

Zug der Erinnerung: Was ist Ihnen besonders wichtig?

Elisabeth Dartmann: Es ist möglich, eine Gesellschaft aufzubauen, die auf Respekt beruht. Baut mit! Mir geht ein Bild nicht mehr aus dem Sinn, das ich bei den Materialien zum "Zug der Erinnerung" entdeckt habe: Ein deutsches und ein israelisches Mädchen legen gemeinsam, Hand in Hand, Rosen nieder in Auschwitz. Das geht doch nur, weil diese beiden Menschen sich noch nicht verletzt haben. Weil diese beiden beschlossen haben, es auch weiterhin nicht zu tun, sondern einen anderen Weg zu gehen und anders mit einander umzugehen. Solche Menschen sind unsere Zukunft. Wer tut unserer Gesellschaft gut? Doch nicht diejenigen, die uns gegeneinander aufhetzen und Vorurteile verbreiten. Sondern diejenigen, welche die Fähigkeit haben, Brücken zu schlagen und Menschen froh zu machen.



Mord an uns allen

Unter den NS-Opfern im Münsterland waren zahlreiche Kinder. Sie wurden wegen erfundener oder tatsächlicher Behinderungen ermordet. Die Massentötungen machte der damalige Bischof von Münster öffentlich.Trotz seiner widersprüchlichen Stellungnahmen zum NS-Regime gehört Galens Predigt, die er auf dem Höhepunkt der Krankenmorde in der Kirche St. Lamberti hielt, zu den wenigen wirksamen Oppositionshandlungen der christlichen Kirchen in Deutschland:

Clemens August Graf von Galen mit
seiner Nichte auf Burg Dinklage.

"Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, 'unproduktive' Mitmenschen zu töten - und wenn es jetzt auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft -, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben."

Galens Ausführungen treffen auf sämtliche Spielarten der Inwertsetzung des menschlichen Lebens zu, wenn es unter betriebswirtschaftliche Beobachtung gestellt wird. (Ungesühnt und unvergessen)

Über von Galen heißt es in der historischen Forschung:

"Er predigt politische Loyalität gegenüber den neuen nationalsozialistischen Machthabern, kämpft aber in Veröffentlichungen gegen ihre neuheidnische Ideologie und Rassenlehre.

Den Krieg samt Überfall auf die Sowjetunion billigt von Galen. Aber als ihn 1941 Ordensleute über das Mordprogramm an Behinderten und Geisteskranken informieren, entschließt er sich zum öffentlichen Protest. Seine ersten politischen Predigten in der Marktkirche St. Lamberti in Münster gelten noch der Schließung von Klöstern durch das Regime. Dann aber macht er seine Anzeige 'wegen Mord' öffentlich, mit der er die so genannte Euthanasie anprangert. Obwohl der Bischof seinen Protest ausdrücklich nicht als politischen Widerstand versteht - 'Wir Christen machen keine Revolution' -, hat seine Botschaft ein ungeheures Echo. Tausende Gläubige demonstrieren in überfüllten Kirchen und auf Prozessionen ihre Solidarität. Die 'New York Times' druckt seine Predigten, die Alliierten werfen sie auf Flugblättern über Deutschland ab. Hitler lässt den Abtransport von Heiminsassen in die Gaskammern stoppen, heimlich geht das Morden allerdings weiter. Bischof von Galen zu verhaften, trauen sich die Nazis wegen seiner großen Popularität nicht. 'Den Bischof Galen hat er auf dem Kieker', notiert Joseph Goebbels am 22. November 1941 nach einem Gespräch mit Hitler: 'Er lässt jede einzelne Handlung dieses Landesverräters beobachten. Er will in einem günstigen Moment zuschlagen.'"

Anders als weniger prominente Katholiken, die sich nicht beugen ließen (so Bernhard Lichtenberg, Edith Stein, Rupert Mayer, Karl Leisner, Maximilian Kolbe oder Nikolaus Groß), überlebte Galen das NS-Regime. "Wie mehrere andere Kirchenvertreter seiner Zeit forderte von Galen Nachsicht gegenüber verurteilten Funktionären der NSDAP und Kriegsverbrechern. Im Juni 1945 unterstützte er die in der Nachkriegszeit populäre Ansicht der 'sauberen Wehrmacht', nach der sich nur ein relativ kleiner Teil der Deutschen an den Kriegsverbrechen beteiligt hatte: 'Wir wollen auch innig danken unseren christlichen Soldaten, jenen, die in gutem Glauben, das Rechte zu tun, ihr Leben eingesetzt haben für Volk und Vaterland und auch im Kriegsgetümmel Herz und Hand rein bewahrt haben von Hass, Plünderungen und ungerechter Gewalttat.'"

Von Galen wurde 1946 zum Kardinal ernannt und 2005 heilig gesprochen.



Kollaboration und Widerstand

Erschreckend viele Familien und ihre Kinder wurden im besetzten Ausland an die Deutschen verraten. Die Denunziationen besorgten NS-Kollaborateure. Dies berichten französische Überlebende, die in Saarbrücken den Zug besuchten, am Beispiel der eigenen Verfolgung. Auch in Luxemburg halfen einheimische Sympathisanten den deutschen Besatzern. Die Kollaboration ist ein europäisches Tabuthema.

In den besetzten Ländern Westeuropas, aber auch im unterworfenen Teil der UdSSR halfen Millionen Einheimische bei der Umsetzung des NS-Rassismus und der Ausplünderung ihrer eigenen Staaten. Berüchtigt sind die ukrainischen Helfershelfer ("Trawniki"), die zu den bevorzugten Hilfskräften der SS gehörten. Sie wurden in den Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau, in Treblinka, Sobibor und Belzec eingesetzt. Auffällig viele Kollaborateure schlossen sich in den deutschfreundlichen baltischen Staaten den Besatzern an. In diesen Ländern konnte die deutsche Besatzungsmacht besonders grausam vorgehen und zehntausende Kinder fast ungestört umbringen. Des Beifalls der Kollaborateure waren sich die Mörder gewiss, wie Dokumente in der Zugausstellung belegen.

In Luxemburg verhaftete Kollaborateure (11. September 1944).
Foto: T. Krier, Fotothek der Stadt Luxemburg

Überall in Europa gehörten die deutschsprachigen Minderheiten ("Volksdeutsche") zu den ersten Adressen der Kollaboration, so auch in Luxemburg. Dort hatten Luxemburger Nationalsozialisten seit Mitte der 1930er Jahre für eine "kulturelle" Rückbesinnung auf die gemeinsamen Rassewurzeln geworben. Diese ideologische Klammer sollte auf kommende Hilfsdienste vorbereiten, die Berlin für Luxemburg im Auge hatte. Mit Beginn der Besatzung (1940) versprach das deutsche Regime bereitwilligen Luxemburgern materielle Vorteile, wenn sie der "Volksdeutschen Bewegung" beitraten. Von anfangs nur 5.000 Mitgliedern erweiterten sich die Reihen der Kollaborationswilligen schnell auf 70.000. Der Beitritt wurde auch mit Drohungen erzwungen. Eine aktive Minderheit der Luxemburger nahm lieber Verfolgung und Deportation in Kauf, als sich dem NS-Regime zu beugen.

Die Aktivitäten der "Volksdeutschen Bewegung" trugen zu Verschleppung und Ermordung der Luxemburger Juden, der Sinti und Roma sowie der politischen Gegner unmittelbar bei. Auch deutsche, belgische und französische Staatsbürger, die den NS-Rassismus fürchten mussten und in Luxemburg lebten, wurden deportiert, darunter Kinder und Jugendliche.

Nach der Befreiung führte das Ausmaß der Kollaboration in den vormals besetzten Staaten zu ernsthaften innenpolitischen Problemen. Die Verzweiflung und Wut der Verfolgten entlud sich teilweise in regellosen Übergriffen auf die Kollaborateure. Auch bestimmte Teile der einheimischen Eliten mussten befürchten, ihre Zusammenarbeit mit den Deutschen könnte politische und materielle Folgen haben. Je umfangreicher der Verrat, desto schneller wurden Amnestiegesetze beschlossen, die das alltägliche Kollaborationsgeschehen außer Verfolgung setzten. Damit gingen auch die meisten Denunzianten straffrei aus. Ihre Opfer kamen aus Auschwitz oder Belzec nicht zurück. In die befreiende Gerichtsbarkeit für Täter wurden Kreise des Widerstands eingebunden und für ihre Mitwirkung politisch belohnt, um sie von einer entschlossenen Abrechnung mit den Mördern abzuhalten.

Die letzten Reste einer strafrechtlich konsequenten und demokratisch notwendigen Verfolgung von NS-Kollaborateuren wurden im Zuge des Kalten Krieges aufgegeben. Ursache war die Zusage der (west)deutschen Regierung, Kampftruppen gegen den Warschauer Pakt aufzustellen, jedoch nur unter der ausdrücklichen Bedingung, Kriegsverbrecherprozesse in den vormals besetzten Staaten versanden zu lassen. Dieser Forderung beugte sich die Justiz in Italien und in weiteren NATO-Ländern. 1953 wurde auch in Luxemburg ein Amnestiegesetz verabschiedet: "(V)iele Kollaborateure (sind) wieder in die Gesellschaft eingegliedert" worden, heißt es zutreffend in einem Text Luxemburger Historiker.

Das tatsächliche Ausmaß der Kollaboration ist weder in West- noch in Osteuropa vollständig untersucht worden. An einer unvoreingenommenen, von politischen Rücksichten freien Aufarbeitung besteht vielerots kein Interesse, da eine Aktualisierung der sozialen und politischen Gegnerschaft zwischen den Erben der NS-Kollaborateure und den Erben des Widerstands befürchtet wird. Diese Tabuisierung bringt auch das Gedenken an die Opfer in Gefahr, da es an die Schuld der Helfershelfer und Mittäter erinnert und möglichst vermieden und kontrolliert werden soll.

Der "Zug der Erinnerung", der seinen Fahrplan geändert hat, ist ein Projekt deutscher Bürgerinitiativen, die sich keinerlei Zensur unterwerfen. Der Aufenthalt in Saarbrücken wurde verlängert. Mehrwöchige Fahrten durch Nord- und Ostdeutschland folgen.



"Steckt sie in den Zug"

Stark gegenwartsbezogen und ungewöhnlich prägnant verlief die Eröffnung der Zugausstellung auf dem Hauptbahnhof Saarbrücken. Dort waren Lok und Wagen am Montag dieser Woche auf Gleis 1 eingetroffen. Mehrere Redner forderten, gegen den um sich greifenden Rassismus deutlicher Stellung zu beziehen. Richard L. Borg, ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Saarbrücken und jetziger Leiter des Vereins "DenkmalMit!", warf einem führenden Mitglied der Deutschen Bundesbank "primitivste Diskriminierung" vor. Die Bedrohung durch Rassismus und nationalistischen Größenwahn komme nicht nur aus der Gosse der bekennenden Nazis, hieß es in der Ansprache des "Zug der Erinnerung". Zunehmend beteiligt seien auch die "deutschen Eliten".

Der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung im Saarland, Dr.
Burkhard Jellonek, am Rednerpult auf Bahnsteig 1. Links neben ihm
Richard Borg (Verein "DenkmalMit!"), MM. Claude Bloch und Jacky
Marx aus Frankreich. Rechts Philipp Cerf, Generalkonsul der
Republik Frankreich und Frau Dr. Susanne Reichrath,
Staatssekretärin im saarländischen Bildungsministerium.

"Die widerlichen Äußerungen eines Mitglieds der Deutschen Bundesbank erinnern an den Rassismus der Goebbels und Hitler. Wir fügen hinzu: Die von einem deutschen Ministerpräsidenten gehaltenen Reden, bei denen es um angeblich faule Rumänen und Aufrufe zur Gewalt an Asiaten ging, sind von ähnlicher Sorte". (Volltext)

Auch der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung im Saarland, Dr. Burkhard Jellonek, fand bei der Eröffnung deutliche Worte. Jellonek zitierte Veröffentlichungen im deutschen Internet, auf die über YouTube ungehinderter Zugriff besteht. Dort heißt es in einem tausendfach abgerufenen Liedtext über türkische Einwanderer:

"Steckt sie in den Kerker
oder schickt sie ins KZ,
von mir aus in die Wüste
aber schickt sie endlich weg.
Tötet ihre Kinder,
schändet ihre Fraun,
vernichtet ihre Rasse
und lehrt ihnen das Graun."

Der Text endet mit einem Aufruf:

"Dann macht doch endlich Schluss,
ihr seid doch wohl genug,
macht es so wie damals
und steckt sie in den Zug!"

Wie Jellonek berichtet, seien die Versuche der Sperrung dieses Mordaufrufs bislang gescheitert. Jellonek bat um mehr Unterstützung bei der Abwehr rassistischer Aktivitäten.



Ungesühnt und unvergessen

Ansprache der Bürgerinitiative bei Einfahrt des Zuges auf Gleis 1 des Hauptbahnhofs Saarbrücken


Chers représentants des organisations-victimes de la Lorraine et de toute la France, chers amis luxembourgeois*,

sehr geehrte Damen und Herren der Landesregierung, der Stadt Saarbrücken und ihrer zivilgesellschaftlichen Organisationen, liebe Freunde des Vereins "DenkmalMit!"

Seit über zwei Jahren fährt der "Zug der Erinnerung" durch Deutschland, um jener Kinder zu gedenken, die für immer verschwanden. Es gibt fast keine deutsche Stadt, die diese Opfer nicht zu beklagen hätte.

Auf dem Güterbahnhof von Saarbrücken sind es nicht allein die saarländischen Kinder und ihre Familien, die verschleppt wurden. Die Reichsbahndirektion Saarbrücken sorgte ebenso für die Massendeportationen aus Metz-Marchandises und aus Luxembourg-Hollerich. Historiker sprechen von etwa 250 Waggons, die mit ihrer menschlichen Fracht allein aus der Lorraine die Lager ansteuerten.

Diese Mordbeihilfe der "Deutschen Reichsbahn" ist bis heute ungesühnt.

Deswegen beklagen wir die Sprachlosigkeit der juristischen und historischen Erben des Mordgeschehens.

Wir schämen uns für die Indifferenz, für das Desinteresse an den "Reichsbahn"-Opfern, die oft in psychischer und physischer Not ihre letzten Lebensmonate verbringen.

Wir bitten Sie, sehr geehrte Vertreter der Landesregierung und der Stadt Saarbrücken, diesen Zustand endlich zu ändern und mit uns gemeinsam für einen deutschlandweiten Hilfsfonds einzutreten.

Wir bitten Sie auch, alles dafür zu tun, dass im Bereich Ihrer Verantwortung eine Wiederkehr von Rassismus und nationalistischem Größenwahn nicht geduldet wird. Diese Bedrohung kommt nicht nur aus der Gosse der Nazis, sondern auch aus dem Milieu der deutschen Eliten.

Wir begrüßen die Stellungnahme des Zentralrats der Juden in Deutschland und schließen uns seinem Urteil an: Die widerlichen Äußerungen eines Mitglieds der Deutschen Bundesbank erinnern an den Rassismus der Goebbels und Hitler. Wir fügen hinzu: Die von einem deutschen Ministerpräsidenten gehaltenen Reden, bei denen es um angeblich faule Rumänen und Aufrufe zur Gewalt an Asiaten ging, sind von ähnlicher Sorte.

Was diesen Äußerungen gemein ist, ist die Reduktion des menschlichen Lebens auf seinen betriebswirtschaftlichen Nutzen. An dieser Stelle beginnt die Aussonderung all derer, die den sogenannten Leistungsträgern nicht angehören können oder wollen: Die Unnützen, das "lebensunwerte Leben".

Was solchen Äußerungen in Deutschland zu folgen pflegt, ist der Weg in Verfolgung und Vernichtung. Wir bitten Sie, meine Damen und Herren, dieser Entwicklung zu widerstehen und öffentlich Stellung zu beziehen!

Chers représentants des organisations-victimes de la France.

Nous, les héritiers historiques des coupables, nous nous sommes conscients que le discours sur l'Europe unifié ne peut pas calmer les doutes de l'Allemagne après la barbarie teutonne. Il est vrai que les garanties contre les répétitions n'existent pas. Il faut, que nous, les héritiers, en prennent la responsabilité.**

Die Opfer, die Kinder und Jugendlichen aller Nationen, die nie mehr zurück kehrten, sind unvergessen!

________

* (Sehr geehrte Repräsentanten der Opferorganisationen aus Lothringen und ganz Frankreich, liebe Freunde aus Luxemburg)

** (Wir, die historischen Erben der Täter, sind uns nach der deutschen Barbarei bewusst, dass die Rede vom vereinigten Europa die Zweifel an Deutschland nicht beruhigen kann. Garantien gegen eine Wiederholung gibt es nicht. Es ist notwendig, dass wir, die Erben, dafür die Verantwortung übernehmen.)



Tausend Kinder aus Frankreich

In Gegenwart der Saarbrücker Stadtspitze, der Saarbrücker Landesregierung, des französischen Generalkonsuls und zahlreicher Repräsentanten von Opferorganisationen übergab Dr. Henry Rozenfarb (Frankreich) eine Liste mit den Namen von 1.054 Kindern und Jugendlichen aus der Lorraine (Lothringen). Sie kehrten nicht zurück.

Die Deportation der Kinder und ihrer Familien hatte die Reichsbahndirektion Saarbrücken im Auftrag der deutschen Besatzer organisiert (Die Verbrechen an Saar und Mosel). Diese Verbrechen sind in Frankreich unvergessen. Henry Schumann, Mitglied der Dachorganisation der Jüdisch-Orthodoxen Gemeinden der Moselle, der wie viele andere die Verschleppung seiner Familienmitglieder zu beklagen hat, musste sich überwinden, um anlässlich des Zugaufenthalts zum ersten Mal nach Deutschland und ausgerechnet an den früheren Sitz der Reichsbahndirektion Saarbrücken zu fahren. Auch den anderen französischen Gästen war ihre Bewegung anzusehen, als zahlreiche Redner an die Opfer erinnerten (Ungesühnt und unvergessen): M. Raymond Levy, Vizepräsident des Consistoire Israelite de la Moselle, Claude Bloch, Präsident der Jüdischen Gemeinde von Sarreguemines (Saargemünd) und Jacky Marx, Stadtratsmitglied in Sarreguemines. Zu den deutschen Ehrengästen der Eröffnungszeremonie gehörte Alex Deutsch, der Auschwitz überlebte und heute im Saarland zu Hause ist. Nach ihm ist die erweiterte Realschule Neunkirchen-Wellesweiler benannt.

Jugendliche des Adolf-Bender-Zentrums und der Realschulen Nalbach und Schmelz hatten sich mit mehreren Projekten auf die Zugankunft vorbereitet: Sie legten Steine mit den Namen saarländischer Deportationsopfer am Zug aus und präsentierten ein eigenes Musikstück, das den Kindern im "Zug der Erinnerung" gewidmet war.

Schien es noch bei Ankunft des Zuges, als würden weniger Schulklassen an Gleis 1 kommen als im vergangenen Jahr, so änderte sich dieser Eindruck bereits am zweiten Ausstellungstag: Angesichts der breiten Berichterstattung und umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit von "DenkmalMit!", des einladenden Saarbrücker Vereins, zählten die pädagogischen Zugbegleiter bis jetzt fast 20 Klassen und insgesamt annähernd 2.000 Besucher.



Die Verbrechen an Saar und Mosel


Anschlussfeier im März 1935 in Saarbrücken.

In der saarländischen Metropole erinnert der Zug seit Montag an die deportierten Kinder und Jugendlichen. 19 Verschleppte aus Saarbrücken verzeichnet das Zug-Archiv, darunter Roger Strauss, der 4 Jahre alt war, als er in Auschwitz ermordet wurde. Die Reichsbahndirektion Saarbrücken schickte auch rund Tausend Kinder und Jugendliche aus Lothringen und Luxemburg in den Tod.

Über 90 Prozent der saarländischen Bevölkerung hatten 1935 für den Anschluss an das NS-Reich gestimmt und damit wissentlich oder ahnungslos das Grenzgebiet den Berliner Kriegsvorbereitungen preisgegeben. Binnen vier Jahren wurde das Saarland zu einem waffenstarrenden Vorposten der geplanten Aggression gegen Frankreich. Nachdem der Überfall erfolgreich verlaufen war, begann nicht nur im Saarland eine Deportationswelle. Auch in den von der Wehrmacht besetzten französischen Landesteilen und in Luxemburg wurden Juden, Sinti und Roma sowie politische Gegner verhaftet (Luxemburg unter deutscher Besatzung). Über ihre Verschleppung schreibt Hendrik Ernst:

"Vor 1939 lebten im Departement Moselle rund 16.000 Menschen jüdischen Glaubens... (B)ei der Besetzung Lothringens (dürften) noch ca. 15.000 Menschen dieser Glaubensrichtung im Osten jener Grenzregion gewohnt haben. Das entspräche 250 Waggons ab Metz marchandises (Güterbahnhof)... Hinzu kamen fast 1.500 Juden sowie rund 200 Sinti und Roma aus dem Großherzogtum, also 2 Transporte (Schnitt = ca. 1.000 pro Zug). Letztere gelangten via Rivesaltes und Drancy nach Auschwitz, wo sie alle in der Gaskammer starben."

Die Transporte wurden von der Reichsbahndirektion (RBD) Saarbrücken geplant und umgesetzt. "Die Strecken des Departements Moselle (57) und alle dazu gehörigen Einrichtungen (z.B. Bw Metz-les-Sablons, Metz marchandises = Güterbahnhof), unterstanden dieser Direktion." Die RBD ließ die aus dem Saarbrücker Gestapo-Gefängnis "Goldene Bremm" vorgeführten Gefangenen auf den Verladebahnhof bringen. Von dort ging die Fahrt über das saarländische Schienennetz u.a. nach Dachau, Buchenwald und Ravensbrück.

An diese Verbrechen und ihre Opfer aus Deutschland, Frankreich und Luxemburg erinnert auf dem mit mehreren Millionen renovierten Euro-Bahnhof Saarbrücken heute nichts. Für wenige Tage wird der Deportierten auf Gleis 1 gedacht. Es ist das zweite Mal, dass der Saarbrücker Verein "DenkMalmit!" gemeinsam mit zahlreichen Unterstützern den Zug nach Saarbrücken holt, um den deportierten Kindern aus allen drei Staaten eine längst fällige Ehre zu erweisen.



Ein Geheimnis im Saarland


Verschleppung eines Kindes in die NS-Tötungsanstalten

Auch auf der zweiten Station seiner neuen Reise erfährt der "Zug der Erinnerung" großen Zuspruch. Nach dem zweitägigen Aufenthalt in Zweibrücken, wo 36 Schulklassen und insgesamt 1.800 Besucher auf den Hauptbahnhof kamen, erwartet die pädagogischen Zugbegleiter in Pirmasens ein ähnlicher Andrang. Die Fahrt durch das Saarland und die Pfalz rührt an ein Massenverbrechen, das bis heute tabuisiert ist: Mord an behinderten Menschen.

Sowohl in Zweibrücken wie in Pirmasens ist die historische Erforschung der antisemitischen Deportationen weitgehend gelungen; ob damit das Gedenken an die Opfer einen angemessenen Stellenwert im öffentlichen Leben findet, ist eine andere Frage. Fast völlig verdrängt und in nur wenig wahrgenommenen Dissertationen behandelt werden die Massentötungen und Sterilisationen, die von den Nazis an behinderten Menschen begangen wurden. Das Tabu hat einen naheliegenden Grund: An dem Mord- und Verstümmelungsgeschehen waren bedeutende Teile der pfälzischen und saarländischen Ärzteschaft, der Pfleger, des übrigen Krankenhauspersonals sowie ihrer Familien als Mitwisser beteiligt. Eines der Tatzentren befand sich in der Psychiatrie des Landeskrankenhauses (LKH) Homburg - nur wenige Kilometer von Pirmasens und Zweibrücken entfernt. Die dort beschäftigten Mediziner erfüllten einen doppelten Auftrag: Sie entschieden nach den Vorgaben des "Erbgesundheitsgesetzes" von 1934 über die Tötung "lebensunwerten" menschlichen Lebens - und sie räumten damit die Krankengebäude für die dringend benötigte militärische Belegung; das Saarland war "Rote Zone" und Aufmarschgebiet bei den Kriegshandlungen gegen Frankreich.

Am LKH Homburg wirkten die Massenmörder Pfannmüller, Heene und Leppien, die als "Gutachter" über Leben und Tod der Behinderten entschieden. Nach unvollständigen Berechnungen wurden 1.500 bis 2.000 Behinderte aus dem Saarland vergast oder auf andere Weise umgebracht. Die Gesamtzahl der Opfer beläuft sich auf etwa 70.000 Menschen. Eine weitere Opfergruppe durfte am Leben bleiben, aber wurde verstümmelt: die Zwangssterilisierten. Sie wurden den Homburger Medizinern von sogenannten Erbgesundheitsgerichten zugeführt, verkappten Befehlszentren für staatliche Humanverbrechen. Dass diese Taten auf keinen oder nur geringen Widerstand stießen, war auch den christlichen Kirchen geschuldet. Zwar wurden die "katholischen Häuser angewiesen", bei der Listenerstellung von Todeskandidaten "nicht mitzuwirken", schreibt der Bischof von Speyer 1940 an einen seiner Amtsbrüder, aber fügt hinzu: "... doch sei es keine Sünde, die Liste auszufüllen." In welchem Umfang die evangelischen Christen kooperierten, ist nicht endgültig erforscht.

Zu den Tötungsopfern gehören auch zahllose Kinder und Jugendliche. Aus Homburg versandte der Massenmörder Leppien die Gehirne der ermordeten Kinder an Professor Hallervorden (Berlin/Dillenburg) oder an gleichrangige medizinische Verbrecher, die dem Sektionsgeschäft nachgingen.

Diese Taten sind ungesühnt. Der "Zug der Erinnerung" schließt ihre Opfer aus der Pfalz und dem Saarland in seine Klagen um die vernichteten Leben ausdrücklich ein.


Die ersten Städte erwarten den Zug


Ritterstraße Zweibrücken mit der alten Synagoge (etwa 1916)

Der "Zug der Erinnerung" ist auf dem Weg zu den ersten Stationen seiner neuen Reise über das frühere Bahnnetz der Massendeportationen. Die Strecke führt über Zweibrücken und Pirmasens in die saarländische Metropole. Sämtliche Städte haben hohen Opferzahlen zu beklagen - darunter viele Kinder und Jugendliche.

Das jüngste Deportationsopfer aus Zweibrücken war 10 Jahre alt: Günter Schönfrank kehrte aus dem Ghetto "Litzmannstadt" (Lodz) nicht zurück. Auch Laure Dreifus, Senta Eskeles und Harry Schu sahen ihren Geburtsort Zweibrücken nicht wieder. Ihre jungen Leben endeten in Auschwitz, Kowno und Dachau. An den aus Zweibrücken Verschleppten geriet zur Kenntlichkeit, was die Nationalsozialisten versprochen hatten: Rassenhetze und nationalen Größenwahn.

Lange vor 1933 und damit früher als in anderen Gebieten verfügte die NS-Partei in der Pfalz über "ein gut funktionierendes Organisationssystem". Als sich der deutsche Terror über Europa ergoss, wurden das eroberte Luxemburg und Elsass-Lothringen der "Westmark" (Pfalz und Saarland) angeschlossen. Mit dem erweiterten Territorium erhöhte sich auch die Zahl der Deportationen um mehrere Tausend Menschen. Ebenso wie die Verschleppten aus Zweibrücken und Pirmasens endete das Leben der Verfolgten aus dem Saarland, aus Elsass-Lothringen und aus Luxemburg in den Ghettos und Konzentrationslagern.

In der Nachkriegszeit wurden die Verbrechensspuren verwischt. Wie in anderen Städten säuberten die überlebenden Täter auch in Zweibrücken die Archive. Das Gedenken an die Opfer blieb jahrelang ohne feste Orte. Dort, wo einst die große prächtige Synagoge der Zweibrücker jüdischen Glaubens stand, wurde ein Parkplatz gebaut, an dem inzwischen eine Tafel an die Pogrome erinnert.

Heute ist Zweibrücken Aufmarschgebiet der Wiedergänger des NS-Rassismus: Hier veranstaltet die NPD mit ihr nahe stehenden "Kameradschaften" immer wieder Demonstrationen und importiert ihr bundesweites Spitzenpersonal - gegen den Widerstand der Stadt, der Schulen und vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Zu den in Zweibrücken Engagierten zählen Schüler des Hofenfels-Gymnasiums,die für den "Zug der Erinnerung" Biographien überlebender Deportationsopfer aufbereitet haben und ihre Exponate im lokalen Ausstellungsteil präsentieren. Der Zug nimmt die Fotos und Dokumente auf seiner Reise mit und wird sie symbolisch in der Gedenkstätte Auschwitz hinterlegen.

Zu dieser letzten Etappe der Fahrt (April 2010) lädt der Zug besonders aktive Jugendliche aus Zweibrücken und aus sämtlichen Folgestationen ein. (Gedenkstättenfahrt nach Polen wird vorbereitet)


Schuld und Schulden

Neuer Ausstellungsteil im "Zug der Erinnerung": Rechtzeitig vor Fahrtbeginn konnte die Aktualisierung der Waggons abgeschlossen werden. Unter dem Titel "Schuld und Schulden" sind jetzt Exponate zu sehen, die sich mit den Deportationseinnahmen der "Reichsbahn" beschäftigen. Dokumente und Fotos belegen an mehreren Beispielen, dass die "Deutsche Reichsbahn" Millionenbeträge verbuchte, die den Deportierten abgepresst worden waren. So mussten 985 rheinische Juden, die im Juli 1942 mit dem Transport "Da 70" nach Theresienstadt verschleppt wurden, insgesamt 18.729 Reichsmark zahlen. "Dieser Betrag entspricht einem heutigen Wert von etwa 123 Tausend Euro", heißt es in der Ausstellung.

Herbert Shenkman im "Zug der Erinnerung"

Auch für die Transporte zwischen den Lagern kassierte die "Deutsche Reichsbahn": Herbert Shenkman, der in jugendlichem Alter das KZ-System durchlief, erinnert sich: "Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, vier Mal mit der 'Deutschen Reichsbahn' deportiert zu werden: von meinem Heimatort Hagen in das Ghetto Theresienstadt, von Theresienstadt in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, von Auschwitz in ein Außenkommando des KZ Buchenwald, von Buchenwald an die tschechische Grenze." In der Ausstellung wird dieser Weg nachgezeichnet und für jeweils 1.000 Deportierte berechnet. Demnach brachte die Verbrechensbeihilfe, die Herbert Shenkman und seine Leidensgenossen durch die Lager irren ließ, der "Deutschen Reichsbahn" 36.380 Reichsmark ein. Das entspricht einem heutigen Betrag von 240 Tausend Euro.

Die "Deutsche Reichsbahn" und die ihr angeschlossenen Unternehmen führten viele Tausend solcher Transporte durch - wie viele, ist unbekannt. Denn auch 70 Jahre nach Kriegsbeginn sehen sich die Rechtsnachfolger der "Deutschen Reichsbahn" außer Stande, Zahlen zu nennen. So antwortete die Bundesregierung auf eine Parlamentsanfrage: "Der Bundesregierung liegen hierzu keine aufbereiteten Daten vor." Wurden die Deportationsopfer wenigstens eingeladen, sich zu melden und eine Entschädigung zu beantragen? "Von der Deutschen Bundesbahn wurden keine Zahlungen an die mit der 'Deutschen Reichsbahn' Deportierten geleistet", bemerkt die Bundesregierung in ihrer Parlamentsantwort lakonisch. Der neue Ausstellungsteil lässt diesen Umgang mit den Opfern unkommentiert. Soweit sie überlebt haben, müssen viele ihre letzten Jahre unter unwürdigen materiellen Bedingungen verbringen.



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