Zug der Erinnerung
Ein Projekt deutscher Bürgerinitiativen
In Kooperation mit:
Über die "Polen-Aktion", deren Umschlagplatz die heutige Region um Guben und Eisenhüttenstadt war, heißt es in einem Bericht der damals 11-jährigen Ilse Reifeisen aus Dorsten: "Am 28. Oktober 1938, direkt nach der Schule, wurde ich mit meiner Mutter von zwei Polizisten zu Hause abgeholt und in das Gefängnis von Dorsten gebracht. Mein Vater war schon morgens abgeholt worden. Wir trafen ihn in einem fensterlosen Raum mit zwei Pritschen."
"Am nächsten Tag wurden wir von Dorsten nach Essen zu einem Sammelplatz und einer Art Schule gebracht. Es war eng, es gab fast nichts zu essen und völlige Ratlosigkeit herrschte vor. Am 30. Oktober wurden wir mit vielen weiteren Personen von Essen in einen Waggon verladen und eine längere schrecklich enge Bahnfahrt fand statt. Wir fuhren über Berlin, in der Nacht sahen wir die Lichter", so Ilse weiter in ihrem Bericht. "Kurz vor der polnischen Grenze mussten alle aussteigen, die gehen konnten. Gertrud Reifeisen war herzkrank und ist mit dem Zug weitergefahren. Ich bin mit dem Vater ausgestiegen. Eine 10er Reihe wurde gebildet und rechts und links gingen Soldaten mit Hunden. Wie weit wir gehen mussten, weiß ich nicht mehr. Aber plötzlich wurde von polnischer Seite auf uns geschossen. Wir haben uns auf den Boden geworfen, mein Vater lag eine Weile beschützend über mir. Irgendwann sind wir weiter gezogen und in dem polnischen Ort Zbaszyn in Polen angekommen... Ca. 4 – 6 Tage waren wir so untergebracht, als eine Epidemie ausbrach. Mein Vater sagte dann, jetzt ist es genug und besorgte uns ein winziges Zimmer zu einem sehr hohen Preis."
Ende Januar kam es auf diplomatischen Kanälen zu einem Agreement zwischen deutscher und polnischer Regierung über eine kurzfristige Rückkehr-Erlaubnis für einige Deportierte; diese sollten Gelegenheit erhalten, Vermögensverhältnisse abzuwickeln. "Meinem Vater wurden Dokumente in Zbaszyn vorgelegt, die den Verkauf seines Geschäftes in Dorsten betrafen. Er weigerte sich dies zu unterschreiben, aber er war bereit dies zu tun, wenn er zurückreisen können...Im März 1939 konnten Reifeisens befristet nach Deutschland zurück kehren. Das Geschäft des Vaters ist bereits verkauft, die Wohnung aufgelöst. Verzweifelt bemühen sich die Reifeisens um Emigration. Aber nur Ilse findet eine Zuflucht - in Schweden.
Dort erreicht sie regelmäßig Post der Familie. Die Nachrichten kündigen das baldige Ende an:
"Sehr betrübt bin ich darüber, dass unser Einreisegesuch abgelehnt ist, aber man darf den Mut nicht sinken lassen. Am 20.1. geht wieder ein Transport, ob wir ihm angeschlossen werden, wissen wir noch nicht; wenn ich nur daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut." (5. Januar 1942)
Der letzte Brief des Vaters datiert vom Feburar 1942:
"Nun muss ich dir leider mitteilen, dass wir ab Freitag gesammelt werden und fahren am 26. oder 27ten ab. Mutter schreibt noch extra. Nun sei fleißig, treu und brav. Lasse im Eifer zum Lernen nicht nach und bemühe dich, die beste Schülerin zu sein. Sei dankbar zu Gott, dass er dich bis jetzt immer beschützt und behütet, sei der Familie Malm dankbar, dass sie dich in guter Pflege behalten und dir den richtigen Weg zeigen. Gebe Gott, dass du uns gesund erhalten bleibst und von Dir nur Gutes hören sollen. Wir nehmen einen Rucksack, einen Koffer und ein Bett jeder mit. Hoffentlich geht alles gut."
Eine Postkarte, die Ilse aus Schweden nach Deutschland schickt, kommt zurück: "Abgereist, ohne Angabe der Adresse". Zielort des "Reichsbahn"-Transports war Riga. Die Eltern kehren von dort nicht zurück.
(Nach einer Recherche von Cosanne Schulte-Huxel, Jüdisches Museum Westfalen, Dorsten)
Auf seiner vorletzten Sation in Sachsen-Anhalt macht der Zug noch bis Dienstag in Dessau-Rosslau Halt. Am Mittwoch wird er in Wittenberg eintreffen (Fahrplan). Sowohl in Magdeburg (3.350 Besucher) wie auch in Blankenburg (1.840 Besucher) erfüllte die Ausstellung alle Erwartungen. Etwa die Hälfte der Besucher sind Jugendliche. Die Engagiertesten lädt der "Zug der Erinnerung" ein, an der kommenden Gedenkstättenfahrt teilzunehmen. Sie führt im Frühjahr nach Oswiecim (Auschwitz/ Polen). Auschwitz, das berüchtigste Zentrum der NS-Massenvernichtung, war zugleich Produktionsstätte der deutschen Großindustrie. Sie unterhielt im "Altreich" Tausende von Zuliefererbetrieben und Subunternehmen, deren Tätigkeit in die gesamteuropäische Herrschaftsplanung der Berliner Regierung eingebunden war. Zu diesem Plan gehörte die Tötung mehrerer Millionen Menschen, die als "rassisch minderwertig" galten, vor allem Juden und Slawen. Die Ermordung einer so hohen Opferzahl konnte nur mit industriellen Mitteln erfolgen. Als erfolgversprechend erwiesen sich Vergasungsversuche an sowjetischen Kriegsgefangenen mit Zyklon B (1941). Zentrale Betriebsstätte für die Produktion war Dessau.
Das Gift, eine Art Blausäure, konnte seriell hergestellt und in Dosen luftdicht angeliefert werden. Bereits das Einatmen von 70 Gramm der Säure, die in Granulatform verdichtet war und beim Öffnen entwich, führte zum Erstickungstod. Die Industriedosen enthielten Chargen von 100 bis 1500 Gramm und konnten nach Gebrauch wieder verwendet werden.
Entsprechende Betriebserfahrungen hatte die "Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung" (DEGESCH) gesammelt. Ihr Dessauer Werk gehörte seit 1930 zur knappen Hälfte der IG Farben (Bayer, BASF) und zur anderen Hälfte der DEGUSSA (heute: Evonik). Wie in zahlreichen anderen Unternehmen stellten Techniker und Ingenieure der DEGESCH ihre Fähigkeiten den deutschen Großverbrechen zur Verfügung und profitierten davon. Betrachtet man das NS-Mordprogramm unter dem Gesichtspunkt seiner praktischen Durchführbarkeit, ergibt sich ein unauflösbares Junktim zwischen industrieller Ausstattung und ideologisch-ideeller Nutzung. Selbst ein noch radikaleres Regime als das des NS-Staates wäre ohne dessen materielle Basis außerstande gewesen, die Verbrechensplanung umzusetzen. Zyklon B erwies sich als hochgradig effizient und technisch leicht handhabbar.
Zur unabdingbaren Voraussetzung des industriell betriebenen Tötungsprozesses gehörte der Antransport der Häftlinge, die nach Millionen zählten. Kein anderes logistisches Mittel war dazu besser geeignet als die Bahn (Gutachten über die Deportationseinnahmen der "Deutschen Reichsbahn"). Auch auf diesem Gebiet war der technologische Entwicklungsstand der deutschen Industrie NS-kompatibel. Die Opfer, darunter Hunderttausende Kinder und Jugendliche, liessen ihr Leben in einer hoch arbeitsteiligen Planungskette, die auf den Bahnhöfen der deutschen Deportationsorte begann und in den Gaskammern mit Zyklon B endete. (Foto von 1945: Ein sowjetischer Soldat demonstriert auf dem Dach des Vergasungskomplexes im KZ Majdanek die Handhabung von Zyklon B. Das Granulat wurde durch einen Schacht in die Mordstätte geschüttet.)
In Dessau hat sich das "Bündnis gegen Rechtsextremimsus" der örtlichen NS-Geschichte angenommen und an der Brauereibrücke einen Informations- und Mahnpunkt errichtet. In das Brückengeländer, nicht weit vom früheren Standort der Zyklon-B-Produktion, sind Edelstahlzylinder eingelassen, die an die Giftdosen erinnern sollen. Auf den Oberflächen der drehbaren und reflektierenden Zylinder kann man Informationen zur Geschichte der Dessauer Zyklon-B-Produktion nachlesen. Im April 2008 brachte das Bündnis gemeinsam mit der Stadt eine Plakette am ehemaligen Wohnhaus deportierter Juden aus Dessau an.
Ohne das Geschäftsinteresse der deutschen Industrie und die Fertigkeiten deutscher Ingenieure und Arbeiter wäre die NS-Massenvernichtung unmöglich gewesen. Das Foto zeigt den Industriekomplex Auschwitz-Monowitz, wo der Chemiegigant IG Farben u.a. das Gas Zyklon B herstellte. Produktionszentrum für Zyklon B war die Stadt Dessau. Etwa 1 Million Häftlinge wurden in den deutschen KZ mit Zyklon B ermordet. Seit Sonntag steht der "Zug der Erinnerung" in Dessau, um der deportierten Kinder und Jugendlichen zu gedenken (Städte und Namen). Die mit der "Reichsbahn" (Gutachten) verschleppten Dessauer Kinder endeten u.a. in Treblinka und Auschwitz. Dort kam das in ihrer Heimatstadt produzierte Gas zum Einsatz.
Blankenburg (Harz) 1944-1945: Als die deutschen Angriffe auf fast sämtliche europäische Staaten mit immer stärkeren Luftbombardements der Alliierten erwidert werden, verlegt Berlin seine Kriegsproduktion in Bergwerke und Höhlen. Eine erste Kolonne von 500 Häftlingen wird aus dem KZ-Buchenwald nach Blankenburg verlegt, wo sogenannte "V"-Waffen hergestellt werden: Raketen, die ausländische Städte ausradieren sollen. Um den erwarteten Produktionausstoß zu bewältigen, müssen Kriegsgefangene in und um Blankenburg neue Gleisanlagen bauen. Es sind Häftlinge aus der UdSSR, aus Belgien und Italien. Unter den sowjetischen Internierten befinden sich zahlreiche Minderjährige. In Blankenburg treffen weitere Gefangene ein: Deutsche Staatsbürger, die mit jüdischen Ehepartnern verheiratet sind und sich nicht scheiden lassen wollen oder im NS-Jargon als "Halb-" oder "Vierteljuden" gelten. Sie kommen aus Mühlheim (Ruhr), aus Berlin oder Breslau und werden in einem Blankenburger Außenbezirk ("Lauseberg") hinter Stacheldraht zum Einsatz bereit gehalten - als Sklaven für Mittelbau-Dora.
"Unsere Arbeit spielte sich unter Tage ab", berichten die "Sippenhäftlinge" Hans und Heinz Fuchs, "im Borcherstollen, Blankenburg, der zu der Krupp'schen Bergwerkverwaltung zählte... Das anfallende Gestein, Ton und Erdreich, wurde von uns Häftlingen mit schweren Vorhämmern zerschlagen und mit Loren kilometerweit aus dem Stollen bis raus zur Halde gebracht... (W)ir sahen, wie ein Kamerad, ein sowjetischer Major, wegen 'Diebstahls' einer leeren unbrauchbaren Zementtüte, die er als Kleidungsstück gegen die bittere Kälte sich um den Leib wickelte, von dem Bauleiter (...) zu Tode geknüppelt wurde." Die bei weitem höchste Opferrate unter den Kriegsgefangenen traf sowjetische Staatsbürger. Neben minderjährigen Gefangenen starben auch Kinder, wie der russische Lagerarzt Nikola Mudrij in einem Totenschein festhielt: ein 28 Tage alter Säugling, womöglich Sohn einer Zwangsarbeiterin.
Im Februar 1945, acht Wochen vor der Befreiung, forderte das "Reichsministerium Rüstung" 400 jüdische Häftlinge aus Auschwitz an, um die Kriegsproduktion aufrecht zu erhalten. Die Hoffnung der KZ-Überlebenden, in Blankenburg der deutschen Todesmaschine zu entkommen, erfüllte sich nicht. Wer die Sklavenarbeit in Mittelbau-Dora überstand, wurde Anfang April auf einen Todesmarsch nach Norddeutschland getrieben.
Diesen Verbrechen stellt sich Blankenburg ohne Vorbehalt. Frühzeitig wurde der "Zug der Erinnerung" nach Blankenburg eingeladen, um der Opfer zu gedenken. Nicht überall ist die Bereitschaft, der andauernden Verantwortung gerecht zu werden, so groß wie hier. Die Bürgerinitiative bedankt sich bei den Blankenburger Unterstützern, nicht zuletzt bei der Stadtspitze.
Unter den Häftlingen der deutschen KZ waren unzählige Kinder und Jugendliche. Das Foto zeigt Überlebende des KZ Buchenwald, dem das Außenlager Mittelbau-Dora angeschlossen war. Die Häftlinge des Außenlagers wurden als Zwangsarbeiter eingesetzt. Im Harz mussten sie unterirdische Stollenanlagen für die Rüstungsindustrie bauen - gemeinsam mit Kriegsgefangenen der besetzten Länder. In Blankenburg, dem jetzigen Standort des Zuges, starben im KZ Mittelbau-Dora Kinder und Jugendliche mehrerer Nationen. Oft kennen wir nicht einmal ihre Namen (Blankenburger Chronik). Die Transporte zwischen den Lagern führte die "Deutsche Reichsbahn" durch. Bitte lesen Sie unser Gutachten über die Mordbeihilfe des deutschen Eisenbahnunternehmens.
Dieses Foto wurde wahrscheinlich 1940 in Magdeburg aufgenommen. Es zeigt Magdeburger Kinder mit ihren Betreuern. Sie wurden deportiert - weil sie Juden waren. Nur wenige überlebten (Sachsen-Anhalt). Ihr Tod ist Teil eines Verbrechens, zu dem die "Deutsche Reichsbahn" in mehreren Millionen Fällen Beihilfe leistete. Für diese Zuarbeit ließ sich die "Deutsche Reichsbahn" bezahlen. Die Einnahmen wurden den Überlebenden nie erstattet. Den ungefähren Betrag hat der "Zug der Erinnerung" in einem Gutachten ermittelt. Das Vorwort ist in vier Sprachen frei verfügbar. Der Gesamttext (DIN A 4, 60 Seiten) kann gegen einen Unkostenbeitrag bezogen werden (Bestellungen hier).
Der "Zug der Erinnerung" ist in Magdeburg eingetroffen - der ersten Station von insgesamt vier Städten im Bundesland Sachsen-Anhalt (Fahrplan). Die Fahrt kommt mit Unterstützung der Gedenkstätten Sachsen-Anhalt und der Landeszentrale für politische Bildung zustande. Ein breites Bündnis Magdeburger Organisationen hat den Aufenthalt seit mehreren Wochen vorbereitet (Flyer Magdeburg). Die Stadt beklagt eine unbekannte Anzahl verschleppter und ermordeter Bürger. Insgesamt 5 "Reichsbahn"-Transporte ab Magdeburg listet das Gedenkbuch des Bundesarchivs für jüdische Opfer auf. Hinzuzurechnen sind Deportationen von Sinti und Roma sowie Vernichtungsmaßnahmen, die sogenannten Erbkranken galten. Nach diversen Einzelabschiebungen begannen die Massendeportationen im April 1942 und endeten im Januar 1944. Bekannt sind die Namen von über 100 Kindern und Jugendlichen. Das jüngste Opfer, Miriam Natowitz, war zwei Jahre alt, als ein "Reichsbahn"-Transport am 2. März 1943 nach Auschwitz fuhr.
Diese Recherchenergebnisse sind der jahrelangen Arbeit einer "Stolperstein"-Initiative zu verdanken. In Zusammenarbeit mit dem Magdeburger Stadtarchiv wird den Opfern ein Teil ihrer Identität zurückgegeben.
Seit Eröffnung der Ausstellung auf Bahnsteig 3 reißt der Besucherstrom in der Landeshauptstadt Hannover nicht ab. Schon bei Ankunft des Zuges am vergangenen Sonntag kam es zu ersten Warteschlangen. Sebastian Wertmüller vom DGB Niedersachsen-Mitte und der frühere Auschwitz-Häftling Salomon Finkelstein hatten sich in ihren Begrüßungsansprachen gewünscht, dass die Ausstellungswagen mit den Biographien der deportierten Kinder von möglichst vielen Jugendlichen besucht werden würden - bereits über 50 Schulklassen aus Hannover stehen auf den Beleglisten der pädagogischen Zugbegleiter, die am Bahnsteig 3 Einführungen geben. Die dichte Besuchsabfolge ist das Ergebnis einer wochenlangen Netzwerkarbeit, die zivilgesellschaftliche Initiativen und kommunale Einrichtungen gemeinsam leisteten. Entstanden ist ein umfangreiches Begleitprogramm, das sich über vier Wochen erstreckt.
Die erweiterte Ausstellung wird in Hannover noch bis Donnerstag (täglich von 08.30 bis 19.00 Uhr) geöffnet sein. Anschließend kommt der Zug nach Lehrte (Fahrplan). Auch dort haben die Koordinatoren für ein Begleitprogramm gesorgt. Auf seiner neuen Strecke hat der Zug binnen 4 Wochen 25.000 Menschen erreicht.
Das Vorwort zum Gutachten über die "Reichsbahn"-Einnahmen bei NS-Deportationen ist in vier Sprachen frei verfügbar. Der Gesamttext (DIN A 4, 60 Seiten) kann gegen einen Unkostenbeitrag bezogen werden (Bestellungen hier). Teile des Gutachtens wurden als Exponate in die erweiterte Zugausstellung integriert. Die Exponate vollziehen den Deportationsweg der Häftlinge Margot Kleinberger und Herbert Shenkman nach. Während Frau Kleinberger als 11-Jährige mit der "Reichsbahn" nach Theresienstadt verschleppt wurde, durchlitt der junge Herbert Shenkmann Lageraufenthalte in Auschwitz und Buchenwald. Beide Deportierten überlebten. Bei der Veröffentlichung des Gutachtens auf der Berliner Putzlitzbrücke waren sie zugegen.
Für ihre Beihilfe zu den NS-Massendeportationen kassierte die "Deutsche Reichsbahn" Transporteinnahmen in heutiger Höhe von mindestens 445 Millionen Euro. Diese Summe wurde den Deportierten, die ihre Verschleppung in zahlreichen Fällen selbst zahlen mussten, nie vergolten. Dies stellt ein Gutachten des Vereins "Zug der Erinnerung" fest, das am 6. November in Berlin der Presse übergeben wurde. Die Veröffentlichung richtet sich ausdrücklich an die juristischen Erben der "Reichsbahn" - die Bundesrepublik Deutschland. Verantwortlich sind die Bundesministerien für Verkehr (vormals Reichsverkehrsministerium) und Finanzen. Das Reichsverkehrsministerium stand in direktem Kontakt mit dem SS-Hauptamt, das die Massendeportationen anordnete. Ohne die logistische Beihilfe der vom Verkehrsministerium angeführten "Reichsbahn" wären die Großverbrechen in den deutschen Todeslagern unmöglich gewesen.
Es ist das erste Mal, dass die Mordbeihilfe der "Reichsbahn" beziffert und den heutigen staatlichen Schuldnern zur Last gelegt wird.
Der "Zug der Erinnerung" ruft zur umgehenden Gründung eines Hilfsfonds auf, um die überlebenden Opfer unterstützen zu können.
Über 50 Schulklassen aus Hannover haben sich für einen Besuch im "Zug der Erinnerung" angemeldet. Dies teilt der Deutsche Gewerkschaftsbund, Region Niedersachsen-Mitte, wenige Tage vor Ankunft in der Landeshauptstadt mit. Gemeinsam mit zahlreichen Initiativen, Einzelpersönlichkeiten und zivilgesellschaftlichen Organisationen ist der DGB zum zweiten Mal Einlader. Er hat für ein umfangreiches Begleitprogramm gesorgt, das sich über vier Wochen erstreckt.
Die Ausstellung im "Zug der Erinnerung" wird Hannover am kommenden Sonntag, 08.11., erreichen. Bei der Eröffnung um 14.00 Uhr auf Bahnsteig 3 sprechen Salomon Finkelstein, ein Auschwitz-Überlebender, und Sebastian Wertmüller vom DGB Hannover. Fünf Tage wird die erweiterte Ausstellung (täglich von 08.30 bis 19.00 Uhr) für die Besucher geöffnet sein. Anschließend kommt der Zug nach Lehrte (Fahrplan).
Wie die lokalen Organisatoren auf der jetzigen Heidebahn-Strecke berichten, kamen an bisher 5 Tagen insgesamt über 4.000 Besucher auf die Bahnhöfe. Auch nach Weiterfahrt des Zuges, der bis Samstagabend noch in Schwarmstedt stehen wird, gehen die lokalen Aktivitäten gegen Rassismus und Rechtsextremismus weiter (Programm Niedersachsen).
Auf der Fahrt durch den Nordwesten erweisen tausende Besucher den Deportierten letzte Ehre. Allein zwischen Delmenhorst und Vechta kamen 10.000 Menschen auf die Bahnhöfe. Dieser Zuspruch wiederholt sich auf der "Heidebahn"-Strecke (Fahrplan). Die pädagogischen Zugbegleiter zählten allein in Walsrode an zwei Tagen rund 1.800 Besucher (Angriff). Auch dort, wo der Zug nicht halten konnte, wird der Opfer gedacht. Während der Durchfahrt in Malente (zwischen Kiel und Lübeck) grüßten Bahnkollegen den Zug mit einer Lichterkette am Gleisrand ("Danke").
Sowohl in Walsrode wie in Schwarmstedt gibt es für den Zug auf dem eigentlichen Bahnhofsgelände keinen Stellplatz. Die örtlichen Koordinatoren und Bürgerinitiativen fanden mit aktiver Unterstützung der Gemeinde in Schwarmstedt einen Ausweg: Sie sicherten ein Betriebsgleis, das sich abseits des Bahnhofsgebäudes befindet, und bauten eine Behelfstreppe, um den Zugang für Schulklassen zu ermöglichen.
In Walsrode verweigert die DB dem Zug die Bahnhofseinfahrt völlig und schützt betriebliche Mängel der Gleisanlagen vor. Verantwortlich ist das regionale DB-Management in Bremen (DB Netz AG Region Elbe-Weser-Heide), das den Zug auch an anderer Stelle behinderte. Weil zumutbare Alternativen auf DB-Gelände nicht zur Verfügung gestellt werden, hilft ein privates Bahnunternehmen. Die Verden-Walsroder-Eisenbahn (VWE) bot einen Gleisstützpunkt an, der zwar außerhalb liegt, aber mit Pendelbussen erreicht werden kann (Bahnhof "Vorwalsrode").
Die verständliche Empörung der örtlichen Bürgerinitiativen wird in weiten Teilen der Öffentlichkeit geteilt. Landrat und Kreistagsmitglieder setzen sich seit Tagen für ein würdiges Gedenken auf zugänglichem Gelände ein. Sie scheiterten an den Verantwortlichen der DB Netz, Region Elbe-Weser-Heide in Bremen.
Die Bremer Einwendungen stehen in einem krassen Missverhältnis zu den Ereignissen, die auf den jetzt gesperrten Bahnstrecken Erinnerung und Gedenken unabweisbar machen. Denn über das Streckennetz der "Heidebahn" wurden Hunderttausende deportiert. Dazu gehören 1.269 Kinder aus den Niederlanden, die im Juni 1943 in den Tod fahren mussten - über die "Heidebahn" nach Auschwitz. Sie in würdiger Weise zu ehren, machen die Bremer DB-Verantwortlichen unmöglich. Wir veröffentlichen eine (gekürzte) Zusammenfassung der Deportationsereignisse, die wir dem Soltauer Historiker Reinhard Otto verdanken.
"Bereits seit Anfang Juli (1941) kennen die Soltauer Bürger die Züge mit sowjetischen Kriegsgefangenen. Ausgemergelte Gestalten blicken bei der Durchfahrt aus den Luken oder über den Wagenrand der offenen Züge. Mehr als 100.000 junge und ältere Männer mit fetzenumwickelten Füßen und zerrissener Kleidung werden mit der Bahn und in Fußmärschen in der Zeit von Juli bis November 1941 in die Wehrmachtslager zwischen Munster und Wietzendorf, Bergen-Belsen und Oerbke-Fallingbostel gebracht. Zehntausende von ihnen sterben dort."
Den "Reichsbahn"-Zügen mit sowjetischen Kriegsgefgangenen folgen Transporte aus den Niederlanden. Dort werden deutsche Flüchtlinge und jüdische Staatsbürger von den NS-Besatzungstruppen im Lager Westerbork interniert, um sie in Sammelabschiebungen zur Tötung gen Osten zu schaffen.
"Insgesamt wurden vom 15. Juli 1942 bis zum 3. September 1944 150.000 Menschen aus Westerbork per Bahn nach Deutschland, weiter in den Osten, nach Polen oder auch nach Theresienstadt verschleppt. Für die Judentransporte aus Westerbork wird der Bahnhof Soltau Schicksalsweiche, denn hier ist ein letzter Halt an der Abzweigung zum 'Aufenthaltslager' Bergen-Belsen möglich, einem der Konzentrationslager auf Reichsgebiet. Am 14. September 1943 zweigt das erste Mal ein Transport aus Westerbork nach Bergen-Belsen ab. Sieben Waggons werden abends um 19:15 Uhr vom Hauptzug, der nach Auschwitz gehen soll, abgekoppelt (...), denn sie sind nicht für Auschwitz, sondern für Theresienstadt gedacht. Dieses KZ ist jedoch überfüllt. Mit einer anderen Lok erreichen die 305 Insassen dieser sieben Waggons eine Stunde später die Rampe in Belsen, wo der kurze, aber unangekündigte Zug bis zum nächsten Morgen warten muss, bevor die Menschen per Lastwagen weiter transportiert werden. Im gesamten Jahr danach kommen, nach weiterem 'Ausbau' von Bergen-Belsen, bis zum 14. September 1944 acht große Züge über das Soltauer Verbindungsgleis aus den Niederlanden" (nach) Bergen-Belsen (...).
Für die Soltauer, die an der Walsroder Straße warten, bis ihnen der Mann an der Schranke den Übergang wieder freigibt, ist es Alltag, wenn rangiert wird. Die 'Sonderzüge' mit ihren Fensterklappen, teilweise zugenagelt, erinnern an die offenen Viehwaggons der gefangenen Russen zwei Jahre zuvor. Die den Reichsbahnhof direkt durchfahrenden Züge sind in der Regel sehr lang, die Transporte verbunden mit Lärm und Gestank. Wenn sie einmal anhalten, dann stehen diese Züge eher abseits der Bahnsteige. Der Westerbork-Zug (...) steuert immer wieder dieselben Ziele im Osten an: Neunzehnmal davon nach Sobibor, direkt in die Vernichtung. Sobibor ist kein Lager, nur ein in die Einsamkeit gebauter Bahnhof mit angeschlossenem Vergasungsgebäude. Der größte der Transporte von Westerbork (Nr. 15) schickt am 8. Juni 1943 3.000 Menschen, darunter 1.269 Kinder aus dem Lager Vught, nach Sobibor ('Kindertransport'). Am 23. Juli 1943 trifft der 19. Transport als letzter dort ein. Kurz danach wird Sobibor nach einem blutigen Aufstand der dortigen Hilfskräfte von den Nazis aufgegeben. Bis dahin sind insgesamt 14.000 Menschen aus den Niederlanden dort umgebracht.
Zwischen dem 15. Juli 1942 und dem 3. September 1944 gibt es insgesamt 186 Mordtransporte vom Lager Westerbork in die östlichen Lager (wie Auschwitz, Treblinka und Sobibor). Und 94.398 Opfer - nur 1.070 Menschen kehren zurück (...).
Mit dem Nahen der Ostfront (...) wird das Transportelend auf der Bahn und bei Todesmärschen in ganz Norddeutschland immer größer. Zwischen Januar und Mitte April 1945 sterben 35.000 Menschen in Bergen-Belsen. Nach Jagdbomberangriffen auf den Soltau Bahnhof am 22. Februar steigen die Angst und die Schwierigkeiten am Bahnhof. Jetzt, unter all den unzähligen Flüchtlingstransporten und Truppenbewegungen, bekommen die Soltauer Anwohner, die Bahnbediensteten und die Kinder auch in anderen Wohngegenden mit, wenn Transport-Waggons auf den Gleisen außerhalb des Bahnhofs warten und Häftlinge vor Hunger schreien. Die Bilder und Erinnerungen gleichen denen, von denen die Anwohner der Bahnhöfe in Celle berichten, wo sich kurz vor Kriegsende ähnliche Szenen abspielten (...).
Ab 31. März 1945 und besonders in der zweiten Aprilwoche sollen im Soltauer Reichsbahnhof sogenannte 'Krankentransporte' aus Neuengammer Außenlagern und den Dora-Lagern des Harzes, Ellrich und Nordhausen (...) Richtung Bergen weitergeschleust werden. In Neuengamme und in Brillit bei Sandbostel werden sie zurückgewiesen. Jeweils 70 bis 120 Menschen sind in Güter- oder Viehwaggons zusammengepfercht, die Züge sind bis zu zwei Wochen in Norddeutschland auf den Gleisen unterwegs, den jeweils letzten Waggon füllen die Toten (...). Zerstörte, zerbombte Gleise und entflohenes Wachpersonal verunmöglichen nach dem 11. April die Weiterfahrt durch das Nadelöhr nach Belsen. Alle weiteren Transporte bleiben auf der Strecke (...)."